Geschichte für Finn
Erste Geschichte
Finn
Der kleine Finn hörte für sein Leben
gerne Geschichten und das, obwohl sein Vater ihm tagein, tagaus
Märchen erzählte. Man könnte annehmen, Finn würde längst genug davon
haben, aber er war unersättlich. Einmal kam eine Dame zu Besuch, und
Finns Vater flüsterte ihm ins Ohr:
„Das ist eine Geschichtenerzählerin, sie hat auch mir schon so
manches Märchen erzählt.“
Da ging Finn zu der Dame, die gerade an einem Glas Tee nippte,
setzte sich vor sie hin auf den Teppich und fragte:
„Erzählst du mir eine Geschichte? - Bitte!“ fügte er drängend hinzu.
Die Dame setzte ihr Glas ab und sah den Jungen aufmerksam an.
„Gerne“, antwortete sie, „nur gibt es da ein Problem. Ich kann
jeden Tag nur eine Geschichte erzählen, nur die, die ich gerade im
Kopf habe. Daher weiß ich nicht, ob sie für dich geeignet ist, ob du
sie verstehst. Es kann sein, daß sie dir gar nicht gefällt.“
„Das macht nichts“, sagte Finn, „Papa erzählt mir auch oft
Geschichten, die ich nicht verstehe. Sie gefallen mir trotzdem, ich
habe dann etwas, worüber ich nachdenken kann, wenn der Tag lang mir
wird.“ „Also gut“, sagte die Dame und begann zu erzählen.
* * *
Irgendwo, zwischen den Ozeanen und dem Wolkenmeer, befindet sich das
Reich der Körperlosen. Dort wohnen die Seelen und warteten darauf,
auf die Welt zu kommen. Das ist das Ziel, dem alle Seelen
entgegenfiebern, ohne genau zu wissen, was sie sich darunter
vorstellen sollen. Genau so, wie wir uns von den Seelen und vom
Reich der Körperlosen kein wirkliches Bild machen können. Zwar gibt
es bei uns wie bei den Seelen einige, die behaupten, einst anderswo
existiert zu haben - aber die wenigsten können dir sagen, wie es
dort war, und was sie erlebt haben. Denen aber, die davon erzählen,
glaubt hier wie dort kaum jemand. Doch man hört ihnen gerne zu,
weil es so angenehm ist, Geschichten zu lauschen, die von etwas
handeln, was man nicht kennt. Die Seelen wissen nicht, was es
bedeutet ‚Eltern’ zu haben, denn Seelen haben keine Eltern, sie
wissen nicht, was ein Baum ist oder das Meer, die Sonne‚ der Mond,
der Himmel, das Weltall, Regen und Sturm. Trotzdem hören sie
gespannt zu, wenn eine von ihnen davon berichtet, so, als sei sie
schon einmal dort gewesen.
„Wenn ich einmal auf der Welt bin ...“ so sprechen die Seelen, eine
zur anderen, und schweigen dann bedeutsam. Eines bestimmten Tages
werden sie das Reich der Körperlosen verlassen und in den Körper
eines gerade geboren Menschen schlüpfen, mit ihm eins werden. Dann
sind sie auf der Welt. Sie werden Eltern haben und einen Namen
bekommen. Werden ein Schicksal haben und die Liebe kennenlernen,
Pefferkuchen essen und Fußball spielen. Und am Ende, wenn ihre Zeit
erfüllt ist, wird der Körper, in dem sie wohnen, sterben und sie
selber werden wieder zurückkehren ins Reich der Körperlosen und dort
so lange bleiben, bis sie alles vergessen haben. Dann erst dürfen
sie wieder auf die Welt kommen. Und alles beginnt von vorne.
Eine noch junge Seele war tief beeindruckt von solchen Erzählungen
und konnte sie gar nicht oft genug hören. Sie wartete voller
Ungeduld darauf, all das Erstaunliche zu erleben. Wenn Seelen
träumen könnten, sie hätte davon geträumt, wie es ist, einen Namen
zu erhalten, denn das schien ihr das Erstrebenswerteste von allem.
Ein Name, der aussagen würde, wer sie war.
Als die Seele wieder einmal sehnsüchtig darüber nachdachte, war ihr,
als würde sie alles vergessen, was sie jemals gewußt hatte. Dann
sprach ein wunderbares Wesen sie mit ihrem Namen an, und sie fühlte,
daß sie angekommen war.
* * *
Die Erzählerin schwieg. Finn hatte gespannt zugehört, ohne sie zu
unterbrechen. Gedankenversunken saß er da und knabberte an seinem
Daumen.
„Na, hat dir die Geschichte gefallen?“, fragte die Dame.
Finn sah sie an und nickte. „Ja!“ antwortete er und fügte bestimmt
hinzu, „ich weiß auch ihren Namen.“
„So, so“, sagte die Dame und lächelte, „da bin ich mal gespannt.
Verrätst Du es mir?“
"Sie heißt Finn", sagte Finn.
Januar 2007
© sigrid kriener
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