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Begegnungen der besonderen Art


Ele -  Kürzel für Elefant , sein Nick im Cycosmos - aber in Wirklichkeit Franz Jocham. Ihn kenne ich beinahe solange, wie ich im Netz bin. Wir lernten uns im Chat kennen und ich schätze ihn sehr als Freund. Mit ihm besprach ich den großen und kleinen Kummer, der einem so im Netz widerfährt. Im Scherz  nannte ich ihn deshalb meinen Beichtvater. 
Damals lebte er noch Zölibater. Inzwischen ist er verheiratet und hat eine Tochter.Geleentlich schrteiben wiruns noch zu den Feiertagen. Vergessen werde ich ihn nie.

Da er in Süddeutschland lebt, dauerte es eineinhalb Jahre bevor wir uns im Mai 2000 zum erstenmal sahen. Dabei  wurde dies Foto aufgenommen,  in Hamburg besuchte, im Hintergrund die Elbe.

Nie würde er sich als  Autor bezeichnen, aber da dies auch eine Seite  ist, wo ich meine Freunde vorstelle, gehört er unbedingt hier her. Und da  Reich-Ranitzki nicht  Unrecht hat mit seiner Behauptung, dass viel Deutsche in Ihrer Schublade ein Manuskript liegen haben,  Roman oder Gedichte, trifft dies auch bei Ele zu. Wie  umfangreich sein Werk ist, weiß ich nicht.

 

 

     
    
Foto 2001

 

                                     DER HALBSTARKE          7. April 1992

Daniel Jacks wirkte schon auf den ersten Blick genau wie einer jener junger Männer, vor denen die Mütter ihre Kinder warnten. Cowboystiefel, verwaschene Jeans, eine alte Lederjacke und ein helles T-Shirt ließen ihn wie eine Neuauflage von James Dean erscheinen. Seine dunkle Sonnenbrille rundete das Bild ab. So lehnte er mit dem Rücken an einer Plakatwand, als würde er dazugehören. Wenn man ihn so sah, fühlte man sich unwillkürlich an eine Eidechse erinnert, die auf einem Stein lag und Sonnenenergie tankte. Den meisten Leuten aus der Umgebung viel er nicht mehr auf.

Jonathan Walker zählte nicht zu dieser Sorte. Seit mehr als achtzehn Jahren betrieb er nun den kleinen Getränkemarkt, der schräg gegenüber der Kreuzung lag, an der Daniel immer stand. Er kannte die Leute aus diesem Viertel und wußte, daß dieser Kerl nichts Gutes im Schilde führen konnte. Kein anständiger Mensch konnte es sich leisten, jeden Nachmittag, an dem sich die Sonne sehen ließ, an eine Wand gelehnt seine Zeit zu vertrödeln. Nun gut, auch er hatte während seiner Jugend so manche Stunde unnütz vertan, aber nur irgendwo in der Gegend herumzustehen und so zu tun, als warte man auf den Bus, das war ihm im Traum nicht eingefallen. Anfangs hatte Jonathan noch gedacht, er würde vielleicht auf seine Kumpane warten. Aber der einzige Mensch, der sich regelmäßig mit ihm traf, war der Mann, der die Plakate aufklebte. Es entbehrte manchmal nicht einer gewissen Situationskomik, wenn auf dem Bild eine freund­liche Dame mit ihrem Waschmittel in Hände herunterlächelte und dann ein schmuddeliger Halbstarker davor lehnte.

In diesem Moment bemerkte Jonathan einen jungen Neger, der sich der Plakatwand und dem Mann davor näherte. Er konnte beobachten, wie sich die beiden die Hände reichten und etwas untereinander austauschten. Als der Schwarze verschwunden war, fragte er sich, was der da wohl getan hatte. Er sah gerade noch, wie der Junge in seine Jackentasche griff und etwas herauszog. Was das war, konnte er leider nicht mehr erkennen. Ein Kunde betrat seinen Laden. Jonathan kannte ihn zwar nicht, aber er wünschte sich jetzt schon, daß es mehr Leute dieser Sorte gäbe. Er war sauber gekleidet und frisch rasiert. Der alte Walker wußte sofort, was dieser Mann wollte. So packte er sein freundlichstes Grinsen aus, als er ihn ansprach.
"Ich wünsche ihnen einen wunderschönen Nachmittag. Kann ich ihnen irgendwie behilflich sein? Lassen sie mich raten; ein Schlummer­trunk zum Feierabend vielleicht?"

"Volltreffer! Ich bewundere ihre Menschenkenntnis. Ich bin auf der Suche nach einem wirklich guten Brandy."

Das war genau das, was er hören wollte. Er setzte gerade an, dem Fremden zu sagen, wo er die gewünschte Flasche finden konnte, überlegte es sich dann aber anders und stand selbst auf. Normalerweise verließ er seinen Platz hinter der Kasse und vor allem hinter der dazugehörigen Schrotflinte nicht, solange Kunden in seinem Laden waren, aber bei einem so ehrlich wirkenden Mann konnte er schon mal eine Ausnahme machen.

"Oh, das ist die Lieblingsmarke meines Schwagers", meinte der Fremde und strahlte dabei über das ganze Gesicht, so als ob er gerade eine brennende Glühbirne verschluckt hätte. Dann nahm er die Flasche, die inzwischen in eine braune Papiertüte gewandert war, entgegen und bezahlte mit einer Hundert-Dollar-Note.

Jonathan verstaute den Schein in seiner Kasse und gab das Wechsel­geld zurück. Er konnte es sich aber nicht verkneifen, noch einen guten Ratschlag loszuwerden.

"Sie sollten sich vorsehen, wenn sie mit so viel Bargeld auf der Straße herumlaufen. Vor allem um den Kerl auf der anderen Seite der Kreuzung würde ich einen großen Bogen machen. Ich habe schon ein paar mal gesehen, wie ihn die Polizei mitgenommen hat."

"Ah ja. Vielen Dank. Ich werde ihren Rat gerne befolgen. Man kann heutzutage gar nicht vorsichtig genug sein. Schönen Tag noch!"

Jonathan bedankte sich und erwiderte den Gruß. Als er wieder zu seinem speziellen Freund hinüberschaute, sah er, wie gerade ein Polizeiwagen hielt und einer der Beamten heraussprang. Der Blonde wurde am Arm gepackt und zum Auto geführt. Alles sah genauso aus, wie man es vom Film her eben kannte. Das einzige, was fehlte, waren die Handschellen, aber der Kerl hatte bisher noch nie Widerstand geleistet, so daß man anscheinend darauf verzichten konnte. Verzichtet hatte man auch auf das Durchsuchen nach Waffen, was Jonathan jedoch nicht auffiel. Er schaute dem Streifenwagen nach, als er um die Ecke bog und im Verkehrsgewühl verschwand. Dabei blieb sein Blick an einem großen Barspiegel hängen, den er neben der Eingangstür angebracht hatte. Dahinter verbarg sich das Loch, das er dort mit seinem Gewehr hinterlassen hatte. Nie würde er den Tag vergessen, als die beiden Kerle mit ihren Brechstangen hereinge­kommen waren und ihm den Schädel einschlagen wollten. Damals hatte er zum ersten- und bisher auch einzigen Mal auf einen Menschen geschossen. Er hatte darauf vertraut, daß die Schrot­flinte unter seiner Kasse genug Streuung hätte, um damit auch mit einem ungezielten Schuß zu treffen. Damit war er gründlich im Irrtum gewesen. Auf eine Distanz von weniger als vier Metern hatte die Munition, die er geladen hatte, ein etwa faustgroßes Loch hinterlassen; aller­dings nicht in den Einbrechern, sondern in der Wand daneben. Zu seinem Glück stand auf der anderen Seite ein Stahlschrank, der die Kugeln aufgehalten hatte. Ansonsten hätte der Spielwarenladen nebenan wohl keinen so kinderfreundlichen Eindruck mehr gemacht. So aber hatte er eines seiner Regale waidgerecht erlegt und die Räuber so geschockt, daß sie sich augenblicklich ergaben. Sie hatten seine für einen Außenstehenden recht gekonnt wirkende Aktion wohl eher als "Warnschuß vor den Bug" verstanden und schienen sichtlich froh zu sein, als die Polizei sie in Gewahrsam nahm. An ihre Gesichter konnte sich Jonathan nicht mehr erinnern, aber er wußte noch genau, daß sie beide schwarze Lederjacken getragen hatten.

Als es draußen dunkel wurde, schloß er zufrieden seinen Laden ab. Der Halbstarke war wieder einmal hinter Schloß und Riegel und ein freundlicher junger Mann gönnte sich jetzt vielleicht gerade einen guten Brandy. Einen Brandy, den er mit einer falschen Hundert-Dollar-Note bezahlt hatte, aber das sollte Jonathan erst sehr viel später bemerken.

Am nächsten Morgen wachte Jonathan ein wenig zufriedener als sonst auf. Das mochte wohl daran liegen, daß der Junge von der Plakat­wand wieder einmal eingebuchtet worden war. Im Grunde genommen war das sein Verdienst. Er war es gewesen, der die Polizei schon vor Monaten auf einen verdächtigen Jugendlichen hingewiesen hatte. Er war schon mehrmals von einem Streifenwagen abgeholt worden, aber man hatte ihn anscheinend nie überführen können, da der Kerl immer schon am nächsten Tag wieder an seinem gewohnten Platz stand und seine Drogen verkaufte, denn um nichts anderes konnte es sich bei dem handeln, was er aus seiner Jackentasche zog und den Leuten gab, die ihn ansprachen. Viel­leicht hatte der Junge ja einflußreiche Freunde, die ihn aus dem Knast herausholen konnten.

Als der alte Getränkehändler an diesem Morgen aufwachte, beschloß er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sollte der Kerl heute wieder vor dieser Plakatwand lehnen, dann würde er ihn höchstper­sönlich von selbiger vertreiben. Er malte sich in Gedanken bereits aus, wie er vor dem Burschen stand und dieser sein Springmesser oder welche Waffe er auch immer tragen mochte, aus seiner Jacke zog und damit auf ihn losging. Dann würde er nur kaltlächelnd seine Schrotflinte hinter seinem Rücken hervorholen und diesen Kriminellen so voll Blei pumpen, daß zwei Füße nicht mehr ausreichen würden, um sein Gewicht noch zu tragen. Viel­leicht würde er ihm auch nur eins mit dem Gewehr­kolben überziehen und ihn dann wegen Mordversuchs anzeigen. Andererseits war es womöglich auch ein wenig voreilig, gleich so brutal zu Werke zu gehen. Diese Jugendlichen waren oft raffinierter, als man glaubte. Er selbst hatte schon von Fällen gehört, in denen sie andere durch zweideutige Gesten zu Angriffen verleitet und später die armen, mißhandelten Kinder gespielt hatten. Er beschloß, dieses Thema erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Sollte der Junge ihn angreifen, würde er sich schon zu helfen wissen; egal ob nun bewaffnet oder nicht.

Kurze Zeit später öffnete Jonathan seinen Laden. Beim Hochziehen des schweren Eisengitters hatte er jedoch leichte Schwierigkeiten. Er hatte sich gerade eben seine Finger an der heißen Herdplatte verbrannt. Damit hatte seine Stimmung ein Niveau erreicht, das sich knapp unterhalb der Grasnabe befand. Entsprechend freute er sich über seine ersten "Kunden". Es handelte sich dabei um drei junge Männer, die etwa um die siebzehn Jahre alt sein mochten.

"Guten Morgen, wir hätten gerne eine Flasche Whiskey."

"Hey Jungs, ihr wißt genau, daß ihr zu jung seid, um Alkohol zu kaufen."

"Wir sind alt genug, um zu wissen, was wir trinken wollen, alter Mann, also mach keinen Aufstand und stell` eine Flasche auf den Tisch. Wir bezahlen schließlich auch dafür. Es braucht ja keiner zu erfahren."

"Alles was ihr von mir bekommen könnt, ist eine Limonade oder eine Tracht Prügel. Also macht, daß ihr verschwindet."

Einer den Jungen macht Anstalten, ein Messer zu ziehen, ließ aber schleunigst davon ab, als Jonathans Hände unter der Theke verschwanden und mit der Schrotflinte wieder hervorkamen. Als die Fronten auf diese Weise geklärt waren, verzogen sich die Drei, jedoch nicht ohne einige freundliche Grußworte zu hinterlassen, in denen sie den Ladenbesitzer mit seinem verlängerten Rückgrat verglichen.

Der alte Walker hatte nicht sonderlich viel Zeit, sich über diese Äußerungen zu ärgern. Schon wenig spät wurde er von seiner Stammkundschaft in Beschlag genommen. Er wurde umfassend über alle Geschehnisse in der Nachbarschaft informiert, ob ihm das nun paßte oder nicht. Aber das war ihm immer noch erheblich lieber, als von halbwüchsigen Möchtegern-Säufern angepöbelt zu werden.

Der hektische Betrieb flaute erst zum Mittag hin ab, so daß Jonathan froh war, ein wenig aus dem Fenster schauen zu können. Irgendwie kam ihm die Plakatwand schon richtig kahl vor ohne den Halbstarken. Aber heute würde er hier wohl kaum auftauchen, nachdem er erst gestern verhaftet worden war. Bei diesem Wetter würde ihn das wohl besonders ärgern. Der leichte Windhauch, der durch die Straßen wehte, schien wie geschaffen, um die Sonnenseite des Lebens (oder der Plakatwand) zu genießen. Dieser Meinung war wohl auch das bildhübsche Mädchen, das in diesem Moment an seinem Fenster vorüber ging. Einen Augenblick ließ er sich fesseln von ihrem anmutigen Hüftschwung und wünschte sich, noch einmal Zwanzig zu sein. Sein Blick folgte ihr, als sie die Straße an der Kreuzung überquerte. Nach einigen Schritten blieb sie plötzlich stehen, und der alte Walker rieb sich ungläubig die Augen, als er den Grund ihres Anhaltens erkannte. Neben dem Mädchen lehnte, mit dem Rücken an der Plakatwand, der Halbstarke und schien sich mit ihr zu unterhalten. Jonathan stieß eine wüste Beschimpfung hervor. Anscheindend hatte es der Kerl wieder einmal geschafft, sich durch die Maschen des Gesetzes zu winden und noch dazu hier aufzutauchen, ohne daß er es gesehen hatte. Ihm wurde bewußt, daß er das eigentlich noch nie gesehen hatte. Jonathan nahm sich vor, in den kommenden Tagen einmal genauer darauf zu achten. Zunächst aber galt seine ganze Aufmerksamkeit dem hübschen Mädchen und dem Jungen mit der Sonnenbrille. Der griff gerade in seine Lederjacke und zog etwas heraus, das er dem Mädchen zeigte. Er hantierte ein wenig damit herum, zeigte es dem Mädchen erneut und ließ es dann wieder in seiner Jacke verschwinden. Als er seine Hände jedoch ihrem Gesicht entgegenstreckte, platzte Jonathan der Kragen. Er stürmte zur Tür, drehte das "Komme gleich wieder" - Schild um, und schloß seinen Laden zu, um in Richtung Plakatwand loszueilen. Das Mädchen verschwand allerdings, noch bevor er die Wand erreichen konnte. Dadurch ließ sich Jonathans aufgebrachtes Gemüt aber nicht mehr beruhigen. Mit leicht gerötetem Gesicht baute er sich vor dem jungen Mann auf.

"Das könnte dir so passen; hier auf offener Straße Mädchen belästigen. Das Eine merk` dir: Solange ich in dieser Gegend wohne, werde ich dafür sorgen, daß du die Leute hier in Frieden läßt."

Daniel machte Anstalten, in seine Jacke zu greifen, wurde aber jäh von einem erneuten Wutausbruch seines Gegenübers gestoppt.

"Laß deine Hände ja da, wo ich sie sehen kann, oder ich verabreiche dir die Tracht Prügel, die dir deine Eltern schon lange hätten geben sollen. Such dir lieber eine anständige Arbeit, anstatt den ganzen Tag nur in der Sonne zu stehen und herumzu­gammeln. Jetzt hat es dir die Sprache verschlagen, wie? Hast wohl gedacht, ein alter Knacker wie ich hätte Angst vor dir. Da hast du dich aber getäuscht. Jetzt mach, daß du verschwindest, und laß dich so bald nicht wieder blicken."

Daniel Jacks schlug seine Jacke zurück, um nach einem glänzenden Metallzylinder zu greifen, der an seinem Gürtel hing. Aber der alte Walker war schneller. Er entriß Daniel den Gegenstand und wollte gerade wieder anfangen zu schimpfen, als ihn das Geräusch von brechendem Glas herumfahren ließ. Es kam aus der Richtung seines Ladens, und in der Tat konnte er gerade noch die drei Jugendlichen von heute morgen erkennen, wie sie mit Baseballschlägern um die Ecke verschwanden. Vom Schaufenster seines Ladens war nur noch ein Haufen Scherben übrig. Rasend vor Zorn überquerte er die Kreuzung, ohne auf die hupenden Autos zu achten, die wegen ihm bremsen mußten. Aber hier zeigte Jonathan das Alter seine Grenzen auf. Keuchend blieb er nach ein paar Metern stehen und verfluchte die verkommene Jugend aufs Herz­lichste. Als er sich umdrehte, um wenigstens dem Halbstarken seine Lektion zu geben, war auch dieser verschwunden. So ging er zu seinem Laden zurück, um den Schaden zu begutachten. Unterwegs untersuchte er den Metallstab genauer, den er gerade eben in seinen Besitz gebracht hatte. Er war sich nicht recht darüber im Klaren, was der Junge damit hatte anfangen wollen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte er den Druckknopf, bei dessen Betätigung aus dem unscheinbaren Stab ein ca. 120 cm langer Teleskop-Stock wurde. Jonathans Augen leuchteten auf. So etwas hatte er schon einmal in einem dieser Kung-Fu Filme gesehen. Vielleicht war das der Polizei endlich Beweis genug für die Gefährlichkeit der Jungen. Für den heutigen Tag hatte er genug Aufregung gehabt, aber gleich morgen würde er den Vorfall melden. Ein Krankenwagen, der mit heulenden Sirenen an seinem Laden vorüberfuhr, schreckte ihn aus seinen Gedanken und erinnerte ihn daran, daß er noch jede Menge Glas vom Gehsteig zu kehren hatte.

Am nächsten Vormittag betraten zwei Polizisten Jonathans Laden, um die Beschreibung der Jugendlichen aufzunehmen, die sein Fenster zertrümmert hatten. Der alte Walker kannte die beiden schon flüchtig. Sie hatten sich schon ab und zu eine Erfrischung bei ihm besorgt; alkoholfrei, versteht sich. Während sich der eine im Hintergrund hielt, stellte sich der andere als Officer James Beam vor. Ihm erzählte Jonathan von den Ereignissen des Vortags, verzichtete aber noch darauf, den Halbstarken zu erwähnen. Das wollte er sich als krönenden Abschluß aufbewahren. Er konnte aber nicht umhin, zu bemerken, wie sich die Miene Beams immer mehr verfinsterte. Schließlich packte Jonathan die Neugierde.

"Sie scheinen nicht gerade begeistert von diesem Einsatz zu sein."

"Das stimmt allerdings. Es hat jedoch nichts mit ihnen persönlich zu tun. Es ist nur so, daß gestern gleich hier um die Ecke ein guter Freund von uns überfahren wurde. Das hat alle im Revier ganz schön mitgenommen."

"Ein Kollege von ihnen?" fragte der Ladenbesitzer mitfühlend.

"Nein, kein Polizist, sondern ein begabter junger Musiker hier aus der Gegend. Er war oft bei uns und hat manchmal die ganze Nacht über gespielt. Er hat sogar Kassetten für die Jungs von der Straße aufgenommen. Vielleicht kennen sie ihn sogar. Schwarze Lederjacke, Jeans, stand immer dort drüben an der Plakatwand."

Jonathan wurde ziemlich mulmig bei dem Gedanken, daß es sich dabei nur um den Halbstarken handeln konnte. So mußte er erst den Kloß in seiner Kehle herunterschlucken, ehe er weitersprechen konnte.

"Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Ein freundlicher junger Mann. Ich habe mich ab und zu mit ihm unterhalten."

Es war wohl Jonathans Aufregung zuzuschreiben, daß er das leichte Stirnrunzeln des Beamten nicht bemerkte, als dieser weiterredete. "Ich muß gestehen, das verwundert mich ein wenig. Ich kannte ihn eigentlich nicht so gesprächig."

"Nun, er hatte wohl Vertrauen zu mir." Jonathan kämpfte immer noch damit, die Fassade des unbeteiligten Zuschauers aufrecht zu erhalten und hoffte, daß die beiden Polizisten möglichst bald zu einem dringenden Einsatz gerufen wurden. Aber anscheinend hatte zu diesem Zeitpunkt niemand Lust, eine Straftat zu begehen.

"Dann wissen sie wohl auch, daß ihn sein Vater manchmal verprügelt hat, als er noch ein kleiner Junge gewesen war."

"Sicher. Er hat einmal beiläufig darüber gesprochen. Aber das ist schon eine ganze Weile her."

"War Daniel oft in ihrem Laden?"

"Nein, nein, er kaufte hier nur gelegentlich ein."

"Er hat aber nicht zufällig bei einer dieser Gelegenheiten seinen Stock in ihrem Laden vergessen, oder? Meine Kollegen haben ihn nicht an der Unfallstelle gefunden."

"Das hat er in der Tat. Er war erst vor ein paar Tagen hier. Da hat er ihn liegengelassen."

"Hat er ihnen da auch seinen Übersetzungscomputer vorgeführt? Das ist ein Gerät etwas größer als ein Taschenrechner, in den man ein Wort eintippen kann, und der Computer..."

"... und der Computer übersetzt es in eine andere Sprache. Ich weiß, ich weiß. Er hat ihn mir gezeigt und ausführlich demonstriert. Ein äußerst praktisches Gerät."

"Und ein sehr vielseitiges noch dazu. Für jemand, der stumm ist, ist das eine einfache Möglichkeit, sich bei Menschen, die die Gebärdensprache nicht beherrschen, verständlich zu machen."

"Das scheint in der Tat naheliegend zu sein," meinte Jonathan, der sich durch die Fragen des Beamten zunehmend in die Enge gedrängt fühlte. "Wenn sie mich jetzt wohl bitte entschuldigen würden, ich habe noch eine Menge zu erledigen." Jonathan betrachtete das Gespräch damit als beendet.

"Selbstverständlich. Wenn ich sie noch um Daniels Stock bitten dürfte, damit wir ihn seinem persönlichen Eigentum zufügen können?"

"Aber natürlich. Konnte er eigentlich damit umgehen; mit dem Stock meine ich?"

"Garantiert; ebensogut wie mit dem Computer."

"Dann hat er wohl sehr eifrig trainiert, nicht wahr?"

"Von Kindesbeinen an. Tag für Tag. Sein Vater hat ihn einmal, nur weil er nicht gleich zu schreien aufgehört hatte, geschlagen, bis er bewußtlos wurde. Er zog sich damals eine schwere Kopfverletzung zu, und seit er damals aufgewacht ist, hat er kein Wort mehr hervorgebracht."

"Und diesen Stock hat er nun zur Selbstverteidigung, ich verstehe."

"Nicht ganz. Dieses Teil hier, "dabei deutete er auf den Metallzylinder in Jonathans Hand, "ist bei weitem nicht stabil genug, um damit zu kämpfen. Es handelt sich dabei vielmehr um einen Taststock, den Blinde benutzen, um Hindernisse oder Bodenunebenheiten wie den Randstein, von dem Daniel gestolpert ist, zu ertasten. Seine Verletzung damals hat ihn nicht nur seiner Stimme beraubt, sie hat auch sein Sehzentrum zerstört. Aber ich bin sicher, auch das hat Daniel ihnen schon erzählt, nicht wahr?"

 


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