SUIZID
Ab und dann gehen in einiger
Entfernung einzelne Menschen vorüber, aber sie scheinen mich
nicht wahrzunehmen. Mein Blick ist seit langer Zeit auf einen
nicht existenten Punkt einige Meter vor mir gerichtet und mit dem
sich verringernden Ausmass mit dem ich immer weniger von der
Umgebung sehe, verstärkt sich mein Hörsinn.
Ich höre das Rauschen des Windes,
der über den breiten Fluss kräftig heranweht und erst in den
massiven Betonbefestigungen Hindernisse findet, an denen der Wind
zu zerbrechen scheint. Der Beton unter meinen Füssen und rings um
mich hat eine blässliche Farbe. er reflektiert die Wärme der
Sonnenstrahlen auf eine fürsorgliche Art und Weise die mich mit
dem Boden und den nahen Betonmauern verschmelzen lässt.
Die Mauern sind stellenweise nicht
sehr hoch, vielmehr sind es überwiegend kleine Brüstungen, die
selbst von Kindern überragt werden. Die grossen Betonmauern
wiederum werfen weite kalte Schatten auf die grosse Betonfläche
in deren Mitte ich regungslos stehe. Selbst mein Herz schlägt
immer langsamer in seinem Takt und auch meine Gedanken werden
langsamer.
Sie werden jedoch nicht behäbig,
im Gegenteil verspüre ich eine zunehmende Klarheit meines
Geistes. Ab und dann streift mich eine Spitze der weiten kalten
Schatten und diese Vorboten der dunklen Nacht lassen mich anfangs
etwas frösteln.
Ich stehe schon sehr lange auf dieser Betonfläche.
In der letzten Nacht habe ich versucht nachzurechnen wie lange ich
nun dort schon regungslos stand.Ich vermochte es jedoch nicht mich
daran genau zu erinnern. Es waren wohl bereits einige Tage und Nächte
des Stillstandes vergangen. In den ersten Stunden meiner
Regungslosigkeit schien die Umgebung immer weiter zu entrücken,
dann wieder schien sie immer näher an mich heranzukriechen.
Aber es waren auch die weiten
Schatten die das Bild meiner Umgebung immer wieder veränderten.
Die zerfurchteten zerissenen spitzen Schattenausläufer die sich
mit unterschiedlicher ungeheurer Schnelligkeit, die sie nur den plötzlichen
Wolken verdankten, über das ganze Bild warfen und es
vereinnahmten schienen mir anfangs bedrohlich. Doch dann gewöhnte
ich mich an sie und lernte sie zu berechnen, verlor aber bald das
Interesse daran.
Mein körperliches Stillstehen dem
schliesslich eine unbeschreibbare grösstmögliche geistige Ruhe
und Auflösung folgte bannte mich von meinem Körper, den ich nach
Tagen schliesslich gar nicht mehr wahrnahm. Selbst die Kälte der
Nacht, die Wärme der Sonne und der kräftige Wind werden nicht
mehr wahrgenommen, Ich bin schliesslich nur mehr mein Geist, meine
Seele, mein Ich. Dieses Ich wandert über den grossen betonierten
Platz, es wandert über den grossen Platz hinaus in die nahe Stadt
und noch viel weiter. Ich bewege mich mit einer gedanklichen
Geschwindigkeit schneller als jeder Wind und schneller als es
jemals ein Schatten sein könnte. Ich bewege mich, mit meinem
Geist, mein Körper steht weiterhin regungslos auf diesem grossen
Platz.
Doch dann laufe ich, läuft
mein Körper plötzlich los, so schnell wie noch niemals in
meinem Leben zuvor. Die Betonmauern gleiten an mir vorbei, als wären
sie Bühnendekorationen die geheime Helfer blitzschnell zur Seite
ziehen.
Ich überquere, ich überwinde breite Flächen die
weite Schatten vereinnahmt haben, ich durchbreche Grenzen des
warmen Lichts und der kalten Dunkelheit. Ich spüre nun wieder den
kräftigen Wind, der mich auf unsichtbaren Flügeln über den
Platz treibt.Ich laufe so schnell dass ich den Boden beinahe
nicht mehr wahrnehme, meine Füsse berühren den Boden in einer so
unglaublich schnellen Abfolge von schnellen Schritten, dass ich
mehr fliege denn laufe.
Der Platz an dem ich viele Tage
regungslos gestanden hatte ist ein sehr grosser Platz und ich
laufe bereits sehr lange und bin immer noch nicht in seinem äusseren
Bereich angelangt. Mein Herz schlägt immer schneller, als
Taktgeber, als Trommler auf einem Sklavenschiff eines verdammten
Lebens, eines Lebens, das wie alles Leben ein Sklave der Zeit
geworden war. Ich laufe und laufe und das Ende des Platzes kommt
immer näher.Je näher ich zu den einzelnen grossen Betonmauern
komme desto höher, desto unüberwindbarer scheinen sie zu werden.
Ich laufe in Richtung Mittagssonne
und im tiefen Schoss der grauen Mauern lauert eine bedrohliche
Dunkelheit als letztes Rückzugsgefecht der vergangenen Nacht, der
vergangenen allerletzten Nacht. Während ich den Mauern
entgehenlaufe und das Pochen und Rauschen des erhitzten Blutes in
meinen Ohren, gemeinsam mit der von mir durchbrochenen Luft eine
laute allesbeherrschende Sinfonie erzeugt, während ich diesem
Heulen in meinem Kopf ausgesetzt bin quere ich den ersten massiven
Schattenausläufer.
Ich laufe nun noch schneller. Ich
mobilisiere alle meine letzten Kräfte, alles an verzweifelter
Energie, alles an grösstem Mut und grösster Angst eines lebenden
Sterbenden. Rasch erfassen mich nun die kalten Schatten und als
ich ihre Kälte spüre gesellt sich ein Hass dazu. Mein Hass,
meine Verachtung die das Ergebniss allen Lebens sind wechseln dann
in eine tiefe Entschlossenheit, eine letzte Bereitschaft, zu kämpfen
und als ich kurz hinaufsehe zu der hohen grauen Mauer
scheint es mir, als würde sie über mich hinweg auf mich kippen
und ich laufe weiter in der Dunkelkheit der Schatten die dem Bild
vor mir die Räumlichkeit rauben. Schlieslich wird es so dunkel im
Schatten , das ich das Ende der Mauer nicht mehr erkennen kann.
Schlieslich wird es so dunkel im Schatten , das ich den Beginn der
Mauer nicht mehr erkennen kann.
Ich laufe und laufe und atme so
schnell und verzweifelt wie ein Ertrinkender in sturmumtoster See.
Ich atme so schnell und laut, dass mir mit jedem Atemzug ein
Schrei entfährt, den ich anfangs erschrocken bemerke. Ich schreie
und diese hellen laute Schreie vermischen sich mit dem Pochen
meines Herzens und dem Rauschen des Windes und des Blutes. Ich
weiss nicht wann ich die Mauer erreichen werde, es kann jeden
Moment soweit sein.
Ich laufe und bin in eine andere
Sphäre eingetreten, ich fliege aus dem Licht in das Dunkel,
begleitet von einer so tiefsitzenden Entschlossenheit die alles
Hassen längst überragt.Ich laufe und rechne damit, jeden Moment
die Mauer zu erreichen. Als ich sie beinahe erreicht habe, brechen
plötzlich blitzschnell die dunklen Schatten weg. Warmes göttliches
Sonnenlicht erfüllt das Bild vor mir während ich der nahen Mauer
entgegenfliege. Meine Schreie werden nun zu einem letzten lauten
Schrei in dem alles ist,was ich war, was ich bin und was ich sein
werde.
Bei meinem letzten Schrei der
zugleich mein allererster Schrei wie einst bei meiner Geburt
ist, werfe ich mich mit dem Kopf voran rücklings in die Höhe und
wenn ich in dem Moment in dem mein verdammtes Leben an dieser
gleissend hellen Mauer mit unbeschreibbarer Geschwindigkeit zu
Ende geht, dann die göttliche Sonne am Himmel noch einmal kurz
sehe, dann wird dieses Licht das absolut einzige sein, woraus mein
gesamtes Leben bestanden hatte.
Diese Zeilen sind dem Selbstmörder
Otto Weininger gewidmet
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