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Himmelsriss und
Schneegestöber
Himmelsriss und seine Schwester Schneegestöber lebten seit vielen Jahren
in einer dunklen Kammer. Seit einer Ewigkeit hatten sie kein Tageslicht
gesehen und keinen Sonnenschein auf ihrer Haut gespürt, und das kam so:
Vor langer Zeit war ein Streit entbrannt zwischen dem Zauberer Hibiskus,
ihrem Vater, und dem Zauberer Gicht. Dieser Streit war mehr, als die
normale Eifersüchtelei unter Kollegen. Sowohl Hibiskus wie auch Gicht
erhoben Anspruch auf die Nachfolge des Zauberers Tempelpforte, nach dem
dieser gestorben und das Reich der Zauberer und Hexen plötzlich
führungslos war. Nun wurde in diesem Reich der Nachfolger nicht gewählt,
sondern die Bewerber um dies Amt mussten Ihren Anspruch durch ihre
Zauberkraft legitimieren. Das anfangs harte Ringenr, bei welchem sich die
Wagschale mal zur einen mal zur anderen Seite neigte, artete aus, als sich
ein Vorsprung für Hibiskus abzeichnete. Eines Tages war sein Hund
vergiftet, seine Diener verließen ihn über Nacht, sein Zauberschimmel
wurde entführt und drei Tage später brannte sein Haus. Hibiskus musste
fliehen, weil er seines Lebens nicht mehr sicher war.
Das Reich fiel in die Hände des Tyrannen Gicht, aber nicht nur das Reich.
Auch Himmelsriss und seine Schwester, die damals noch Kinder waren, und
die nichts als ihr Leben aus dem brennenden Haus hatten retten können,
wurden seine Gefangenen und Geiseln. Solange Gicht sie in seiner Macht
hatte, fühlte er sich sicher, denn er wusste, dass Hibiskus nichts gegen
ihn unternehmen würde. Er sperrte die Geschwister in ein stockfinsteres
Verließ, so dass sie nicht wussten ob Tag war oder Nacht. Dort wuchsen sie
heran. Himmelsriss wurde ein schöner Jüngling und Schneegestöber wäre ein
liebliches junges Mädchen gewesen, hätte nicht eine Gesichtsstarre ihre
Züge verzerrt, als Folge des Entsetzens jener Nacht, als ihr Haus brannte
und der geliebte Vater fliehen musste.
Eines Tages (oder war es Nacht?), als sie bei Kerzenschein in ihrem
Gefängnis eng beieinander saßen, hörten sie ein feines Gewisper: „Rettung
ist nah. Rettung ist nah.“ Erstaunt sahen sie sich um und gewahrten eine
kleine weiße Natter, die sich schlängelnd in einem Kreis lautlos um sie
herum bewegte. „Woher kommst denn du?“, fragte Himmelsriss. - „Der
Zauberer Hibiskus, eurer Vater, schickt mich“, antwortet das Schlänglein.
„Morgen um die gleiche Zeit wird er kommen und den Zauberer Gicht
verjagen. Er hat zwei mächtige Verbündete gewonnen, den Herbststurm und
die Kälte. Sie werden Gicht den Garaus machen.“ - „Zuvor wird der uns
töten“, sagte Schneegestöber. - „Ich bin gekommen, euch von hier
fortzuführen“, erwiderte die Natter. „Aber wie?“, fragte Himmelsriss. „Wie
sollen wir fliehen? Die Tür ist verschlossen.“ „Wo ich herein gekommen
bin, da können wir auch hinaus“, antwortete die Natter und deutete auf
einen Riss in der Wand, durch den ein schwacher Lichtschimmer hereindrang.
- „Aber es ist so hell da draußen, die Wächter werden uns uns entdecken
und ergreifen“, sagte Schneegestöber. -„Wo denkst du hin?“, beruhigte sie
die Schlange. „Seht, hier habe ich für jeden von euch eine Kappe, die euch
unsichtbar machen wird. Schließlich ist euer Vater immer noch ein
mächtiger Zauberer.“ Da fassten die jungen Leute Mut und folgten dem Tier
durch den Spalt in der Wand, der sich vergrößerte, sowie sie
hindurchschlüpften ins Freie gelangten.
Geblendet von der ungewohnten Helligkeit blieben sie einen Augenblick lang
stehen, doch die Tarnkappe verbarg sie vor den Wächtern und sie entkamen
unbemerkt in den nahegelegenen Wald. Da stand auf einer Lichtung der
Zauberschimmel. Er schnaubte leise, und Schneegestöber lief auf ihn zu und
umschlang seinen Hals. „Hier werde ich euch verlassen“, sagte das
Schlänglein. “Wir sehen uns wieder, wenn die Schlacht geschlagen ist. Der
Schimmel kennt den Weg. Er wird euch außer Landes bringen zu eurem Vater“.
Und schon war es verschwunden. Die Geschwister bestiegen den Schimmel, und
der trug sie davon, weit weg von ihrem Peiniger und den Schmerzen der
vergangenen Jahre. Sie hörten nicht die Eulenrufe als sie im Mondlicht
durch den Wald galoppierten.
27.2.2000
überarbeitet Februar 2009
© sigrid kriener
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