1999 habe ich mit dem Schreiben begonnen. Ich habe viel ausprobiert und von vielen Kontakten in diversen Foren profitiert.
Den Cycosmos gibt es nicht mehr. Aber ich bin froh dort in der
Autoren Community einen Schutzraum gehabt zu haben, der er mir ermöglichte, Selbstvertrauen aufzubauen und
mich auf sehr viel glatterem Parkett zu
behaupten. ;-))))
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Die Kleine
„Hier sieht alles noch aus wie früher“, denkt Hanna als sie das Auto
auf dem Platz vor dem Pfarrhaus parkt. Sie steigt aus, geht um das
Fahrzeug herum und öffnet die hintere Tür.
„Aussteigen!“ sagt sie und befreit ihre Tochter aus dem Kindersitz.
Flink gleitet Fratz aus dem gepolsterten Plastiksitz und springt hinaus
auf den Schotterweg. Sie kippt ein wenig, fängt sich aber noch und dreht
sich, breitbeinig aus der Hüfte zur Mutter. „Schick, nicht?“ Fratz
trommelt mit flachen Händen auf ihr Sweat-Shirt, dort prangt über die
ganze Breite ein Donald-Duck-Motiv. „Und ob!“ sagt Hanna und gibt ihr
einen Klaps auf die Schulter. „Ist dir nicht zu warm?“ Die Sonne brütet
und das Gesicht des Kindes glüht. Fratz schüttelt energisch den Kopf.
„Äh äh!“
Hanna nimmt sie an die Hand. „Komm wir gehen zur Oma.“ – Sie gehen
eine Birkenallee entlang. Das Kind entdeckt ein Hinkespiel, das irgendwer
mit seiner Schuhkante in den Sand geritzt hat. Es macht sich los und hinkt
in den Kästchen herum, springt mit beiden Füßen in das Oval und ruft
triumphierend: “Pisspott.“
Hanna ist vorausgegangen. „Wir müssen hier entlang.“ Hinter einer
Immergrünhecke biegt sie in einen Weg. Er führt an Gräbern entlang und
ist frisch geharkt. Fratz bestaunt die feinen, nebeneinander laufenden
Furchen; sie setzte die Füße achtsam, um so wenig wie möglich vom
Muster zu zerstören. Ab und zu schaut sie hinter sich und betrachtet die
Abdrücke ihrer Schritte. Die meisten Grabsteine sind glattpoliert; manche
sind rötlich, andere schwarz oder grau. Die Farben verblassen in der
flirrenden Glut des Nachmittags. Fratz studiert die einfach gekerbten -
oder vergoldeten Inschriften auf den Steinen. Sie kann noch nicht lesen,
weiß aber, dass es Namen sind von Leuten, die hier in den Gräbern
liegen. Am besten gefällt ihr ein Grabmal mit einem Engel aus weißem
Marmor. Sie bleibt stehen und schaut andächtig. – „Wie schön er
ist!“ - sie würde ihn gern berühren, aber traut sich nicht. So
streicht sie nur im Vorbeigehen, wie aus Versehen, mit der Hand über den
schwarzen Sockel.
„Hier ist es“, sagt Hanna, als Fratz herangekommen ist. - Kein Engel,
kein Grabstein. - Nur ein niedriger Baum mit silbriggrünen Blättern und
dünnen Zweigen, die so tief herunterhängen, dass sie fast die Erde berühren.
Lachsrosa welken darunter Blumen, die an den Rändern schon rostfarbenen
Flecken haben. - Das Kind schluckt. Hanna bückt sich und zupft die braun
gewordenen Blüten aus den Begonien. Sie liebt die Ruhe, die vom Friedhof
ausgeht. Fratz hilft zuerst, wird aber bald unruhig, langweilt sich. Nicht
weit entfernt sieht sie eine Pumpe. Sie läuft hinüber und bewegt den
Schwengel auf und ab. Hohes Quietschen und Rasseln bricht die Stille,
gleichzeitig röchelt Wasser aus dem Pumpenhals. Fratz fängt es mit den Händen
auf und kühlt damit ihr Gesicht. Neben der Pumpe liegen verdorrte Blumen
und Kränze auf einem Haufen. Es riecht. Sie schaut sich um. Die Mutter
ist immer noch am Grab beschäftigt. – „Wo war nur noch der Engel?“
überlegt das Kind.
Die Kleine achtet nicht auf das Hupen der Sirene, die aus der
Mittagspause zurück an die Arbeitsplätze ruft. Barfuß trottet sie den
Feldweg entlang. Die Sonne brennt auf ihre bloßen Schulterblätter und
malt einen kurzen Schatten vor ihr auf den Boden. Bei jedem Schritt dringt
Sand staubfein zwischen ihren Zehen herauf und rieselt sogleich am Fußrücken
wieder hinab. Zurück auf der Haut bleibt ein samtig grauer Überzug.
Winzige Glimmerplättchen schimmern darin wie zerstoßenes Perlmutt.
Versunken in diesen Anblick setzt das Kind behutsam einen Fuß nach dem
anderen auf.
Der Weg zieht sich schnurgerade zwischen Kornfeldern entlang bis hin zur
Taxushecke des Friedhofes. Dahin will die Kleine. Sie hat die Mutter schon
einige Male zum Grab begleitet. - Das Grab. - Das ist ein viereckiges Stückchen
Erde, gesäumt von einer Einfassung aus niedrigem Buchsbaum. Der Bruder
liegt dort, hat die Mutter gesagt, der Junge mit den blonden Haaren auf
dem Foto im Wohnzimmer. Er ist gestorben. Was das bedeutet, weiß das
Kind. Er ist tot – kommt nie mehr zurück. „Ge-stor-ben.“ Lautlos
formen ihre Lippen das Wort, dehnen es, wie - um sich dadurch seine
Bedeutung einzuprägen. Auch der Vater ist tot, aber er ist nicht
gestorben, liegt auch nicht im Grab. Er ist gefallen. Im Krieg. Was das
bedeutet weiß die Kleine nicht genau. - Sie hütet sich zu fallen.
Sie hält die Arme etwas vom Körper entfernt und balanciert entlang der
ausgefahrenen Spur, in der die Reifen eines Treckers tiefe Abdrücke
hinterlassen haben, bleibt stehen und gräbt die Zehen in den heißen
Sand. Die dunkle Decke bricht auf und es quillt hell darunter hervor. Noch
immer ist ihr Blick zum Boden und auf ihre Füße gerichtet, er hat jedoch
einen nach innen gekehrten Ausdruck angenommen. Sie pendelt mit dem Oberkörper
ein wenig hin und her, bis sie mit dem, was ihr durch den Kopf geht, zu
Ende gekommen ist.
„Ich hätte Blumen mitbringen sollen“, denkt Hanna. - Früher hatte es
eine kleine Gießkanne hinter einem Busch gegeben, damit hatte sie an der
Pumpe Wasser geholt und anschließend die Blumen gegossen. Aber seit das
Grab von einem Gärtner gepflegt wird, ist die Kanne verschwunden. Hanna
weiß seitdem nie genau, was sie tun soll, wenn sie herkommt. Sie zupft
noch einwenig Unkraut und legt es zu den abgerupften Blüten neben das
Grab. Als sie sich aufrichtet, ist Fratz nirgends zu sehen.
„Fratz?“ ruft sie. Keine Antwort - alles bleibt still.
Hanna spürt plötzlich Ihren Herzschlag bis in den Hals, und es rauscht
in ihren Ohren. Einige lange Sekunden ist ihr, als würde sie ohnmächtig.
Dann befreit sich mit einem Ruck aus der aufkommenden Panik. „Fratz!“
ruft sie noch einmal, lauter. Aber der Schall verebbt. Hektisch blickt sie
um sich. Dann bemerkt sie auf dem geharkten Weg die Abdrücke von kleinen
Sandalen. Im Laufschritt folgt sie der Spur. – „Lieber Gott“, denkt
sie, „lieber Gott.“
Als die Kleine wieder aufsieht, erblickt sie vor sich drei Paar Füße.
Sie stecken in ledernen Schnürschuhen und Sandalen. Drei Jungen in kurzen
Hosen, dicht aneinander gedrängt, versperren ihr den Weg. Einen davon
kennt sie. - Heiko, den Größten, er geht schon in die dritte Klasse und
wohnt mit seiner Mutter im Schulgebäude über den Unterrichtsräumen. Die
beiden anderen sind jünger. Einer hat kurzes braunes Haar und einen
Schopf über der Stirn. Die Hände in die Taschen seiner Lederhose
gerammt, kneift er gegen die Sonne die Augen zusammen und nagt an seiner
Lippe. Der andere ist ganz und gar farblos, er lehnt sich, an Heiko, als
ob er Schutz sucht; sein Blick geht weit über das Mädchen hinweg. Nur
Heiko schaut finster auf die Kleine hinab. Er ist gut einen Kopf größer
als sie.
„Du kommst hier nicht durch“, sagt er mit einer Stimme, so kratzig wie
Sandpapier.
Das Mädchen lugt zwischen blonden Fransen hindurch in das entschlossene
Gesicht des Jungen. Der starrt zurück auf die kleine Person, in ihren
gestreiften Spielhöschen mit herzförmigem Latz und den am Rücken
gekreuzten Trägern.
„Leg dich hin“, sagt er.
Die Kleine rührt sich nicht.
„Los, mach“, drängt er.
„Warum denn?“
“Wenn du nicht tust, was wir sagen, hauen wir dich.“
Mit gespreizten Beinen steht der Junge vor ihr und hält sie mit seinen
Blicken in Schach. Zurückweichend legt sie sich auf den harten Boden
zwischen den Fahrspuren, ohne die Jungen aus den Augen zu lassen.
„Lass deine dreckigen Finger von meiner Tochter“, schreit Hanna dem
Halbwüchsigen schon von Weitem entgegen. Ihre Stimme überschlägt sich.
Der Junge steht verdutzt. Fratz schaut verunsichert. - Als Hanna bei den
beiden ankommt, zittert sie so, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen
halten kann. Sie geht neben Fratz in die Knie und packt sie am Arm.
„Was hat er dir getan?“ Ihre Stimme vibriert.
„Aber Mama“, stammelt Fratz, „ich hab' ihn doch nur gefragt, ob er
mir vorliest, was auf dem Grabstein steht.“ Hannas Blick streift das
Grabmal nur flüchtig. „Gott sei Dank“, sagt sie und drückt ihre
Tochter an sich. Langsam weicht die Anspannung, ihre Arme werden schlaff,
sie lässt das Mädchen los. - „Seine Oma liegt auch hier“, wispert
Fratz ihr ins Ohr. - Der Junge ist noch immer da, als Hanna aufsteht. Sie
schaut ihm an, als wäre er durchsichtig „Gehen wir?“ fragt sie und
legt Fratz die Hand auf die Schulter. Das Kind nickt.
Sie verlassen den Friedhof durch eine schmale Eisenpforte an der Rückseite
und kommen auf einen Sandweg. Er führt an Stoppelfeldern entlang und mündet
in der Ferne in eine Allee.
„Komm. Ich zeig dir, wo ich früher gewohnt habe“, sagt die Mutter.
„Siehst du, da ist es“, sie deutet auf das erste Haus an der Straße.
„Soooo weit?“ mault Fratz und lässt sich in den Sand plumpsen, „ich
bin müde.“ -„Das ist nicht weit“, sagt Hanna, „ich bin hier früher
oft gegangen.“ - „Wie alt warst du da?“ Fratz versucht Zeit zu
gewinnen. „Nicht ganz so alt wie du.“ Hanna bemüht sich, das Kind vom
Boden hochzuziehen. „Darf ich barfuß gehen?“ Fratz ist schon im
Begriff die Sandalen abzustreifen. - „Kommt nicht in Frage, du könntest
in eine Scherbe treten.“ Hanna hockt sich zu ihrer Tochter und zurrt die
Sandalen wieder an den Füßen fest.
„Mama - warum warst du vorhin so böse?“
„Ich war nicht böse, ich hatte Angst.“
„Warum?“ Fratz lässt nicht locker.
„Das erzähl ich dir vielleicht später mal“, weicht die Mutter aus.
„Zieh die Hose aus“, befiehlt Heiko.
Zögernd streift das Kind die Träger herunter und schiebt den gekräuselten
Bund des Höschens bis hinunter auf die Oberschenkel.
„Weiter“, fordert er.
„Ich will nicht.“ Die Kleine richtet sich auf, zieht die Knie zu sich
heran, umschlingt sie und presst sie so fest gegen den Oberkörper, dass
sie kaum noch Luft bekommt.
„Dann hauen wir dich eben“, droht Heiko noch mal und stößt mit den
Ellenbogen seine Freunde an. Die Jungen nickten.
Sie windet sich. Schließlich schiebt sie das Höschen hinunter, erst bis
zu den Knien und weiter bis an die Knöchel. Dann legt sie sich wieder
hin. Den Kopf zur Seite gedreht schaut sie zwischen die dicht an dicht
stehenden Halme des Kornfeldes. Sie versteht nicht, weshalb sie sich so
hinlegen soll; aber es ist nicht richtig ist so zu liegen, das spürt die
Kleine genau. Sie schämt sich; will aufstehen, weglaufen - weg, so
schnell sie nur kann. Aber sie kann nicht. Sie zittert wie unter einem Schüttelfrost.
Es gibt nur noch diesen Weg und die drei Jungen - alles andere ist weit
fort. Ein Stein drückt; sie traut sich nicht, sich zu rühren. Zwischen
ihren Zähnen knirscht Sand. - Die Jungen tuscheln leise. Verstohlen
blinzelt das Mädchen in ihre Richtung.
„Beine breit“, kommandiert Heiko. Die Kleine gehorcht.
Sie sieht ihn auf sich zukommen. Schnell presst sie die Lider zusammen.
Dann spürt sie sein Gewicht auf ihrem Körper. Sie hält die Luft an,
macht sich steif –hört wie er stoßweise atmet. - Wird er ihr weh tun?
- Sie macht die Augen auf. Sein verschwitztes Gesicht ist genau über ihr
und sie blickt ihm geradewegs in die Augen. „Wehe, du sagst was“,
zischt Heiko. Die Haare hängen ihm in die Stirn und verschatten sein
Gesicht. Mit einem Mal lässt er sie los. Gleich darauf poltern die drei
Jungen an ihr vorbei.
Die Kleine bewegt sich nicht, bis es ganz still geworden ist. Dann öffnet
sie die verkrampften Finger, setzt sich auf, zieht die Hose hoch, streift
die Träger über, streicht den Sand von den Schenkeln und steht auf. Über
die Schulter schaut sie hinter sich. Da an der Straße steht das Haus, in
dem sie mit ihrer Mutter wohnt - aber auf halbem Weg stapfen die drei
Jungen nebeneinander eilig davon. Der Dunkelhaarige dreht sich um, hebt
einen Stein auf und schleuderte ihn in ihre Richtung. Doch der Stein geht
weit entfernt flach in den Sand.
Hanna runzelt die Stirn, und schaut hinüber zum Haus. Die quengelnden
Fragen ihrer Tochter dringen nicht zu ihr durch. – „Wehe, du sagst
was...“, summt es in ihrem Kopf ‚ „wehe, du sagst was.“ - Hanna
versucht es mit aller Macht zu ignorieren. „Es ist alles schon so lange
her...“ -
„Komm jetzt“, sagte sie entschlossen und klopft Fratz den Sand von den
Füßen. „Wir wollten doch noch Eis essen.“
Als sie sich der Straße nähern, kommen ihnen drei Jungen entgegen.
Schweigend drücken sie sich an einander vorbei. Als sie auf gleicher Höhe
sind, macht Fratz ihnen über die Schulter hinweg eine lange Nase, wirft
den Kopf in den Nacken und kichert übermütig. In den Augen des Kindes
spiegelt sich das tiefe Blau des hochsommerlichen Himmels.
Oktober
2002
© sigrid kriener
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