madonnas archiv

Oktober 2002 



1999  habe ich mit dem Schreiben begonnen. Ich habe viel ausprobiert und von vielen Kontakten in diversen Foren profitiert. Den Cycosmos gibt es nicht mehr.
Aber ich bin froh dort in der Autoren Community einen Schutzraum gehabt zu haben, der er mir ermöglichte, Selbstvertrauen aufzubauen und mich auf sehr viel glatterem Parkett zu behaupten.
;-))))








 



 

Die Kleine

Hier sieht alles noch aus wie früher“, denkt Hanna als sie das Auto auf dem Platz vor dem Pfarrhaus parkt. Sie steigt aus, geht um das Fahrzeug herum und öffnet die hintere Tür.
„Aussteigen!“ sagt sie und befreit ihre Tochter aus dem Kindersitz. Flink gleitet Fratz aus dem gepolsterten Plastiksitz und springt hinaus auf den Schotterweg. Sie kippt ein wenig, fängt sich aber noch und dreht sich, breitbeinig aus der Hüfte zur Mutter. „Schick, nicht?“ Fratz trommelt mit flachen Händen auf ihr Sweat-Shirt, dort prangt über die ganze Breite ein Donald-Duck-Motiv. „Und ob!“ sagt Hanna und gibt ihr einen Klaps auf die Schulter. „Ist dir nicht zu warm?“ Die Sonne brütet und das Gesicht des Kindes glüht. Fratz schüttelt energisch den Kopf. „Äh äh!“
Hanna nimmt sie an die Hand. „Komm wir gehen zur Oma.“ – Sie gehen eine Birkenallee entlang. Das Kind entdeckt ein Hinkespiel, das irgendwer mit seiner Schuhkante in den Sand geritzt hat. Es macht sich los und hinkt in den Kästchen herum, springt mit beiden Füßen in das Oval und ruft triumphierend: “Pisspott.“

Hanna ist vorausgegangen. „Wir müssen hier entlang.“ Hinter einer Immergrünhecke biegt sie in einen Weg. Er führt an Gräbern entlang und ist frisch geharkt. Fratz bestaunt die feinen, nebeneinander laufenden Furchen; sie setzte die Füße achtsam, um so wenig wie möglich vom Muster zu zerstören. Ab und zu schaut sie hinter sich und betrachtet die Abdrücke ihrer Schritte. Die meisten Grabsteine sind glattpoliert; manche sind rötlich, andere schwarz oder grau. Die Farben verblassen in der flirrenden Glut des Nachmittags. Fratz studiert die einfach gekerbten - oder vergoldeten Inschriften auf den Steinen. Sie kann noch nicht lesen, weiß aber, dass es Namen sind von Leuten, die hier in den Gräbern liegen. Am besten gefällt ihr ein Grabmal mit einem Engel aus weißem Marmor. Sie bleibt stehen und schaut andächtig. – „Wie schön er ist!“ - sie würde ihn gern berühren, aber traut sich nicht. So streicht sie nur im Vorbeigehen, wie aus Versehen, mit der Hand über den schwarzen Sockel.

„Hier ist es“, sagt Hanna, als Fratz herangekommen ist. - Kein Engel, kein Grabstein. - Nur ein niedriger Baum mit silbriggrünen Blättern und dünnen Zweigen, die so tief herunterhängen, dass sie fast die Erde berühren. Lachsrosa welken darunter Blumen, die an den Rändern schon rostfarbenen Flecken haben. - Das Kind schluckt. Hanna bückt sich und zupft die braun gewordenen Blüten aus den Begonien. Sie liebt die Ruhe, die vom Friedhof ausgeht. Fratz hilft zuerst, wird aber bald unruhig, langweilt sich. Nicht weit entfernt sieht sie eine Pumpe. Sie läuft hinüber und bewegt den Schwengel auf und ab. Hohes Quietschen und Rasseln bricht die Stille, gleichzeitig röchelt Wasser aus dem Pumpenhals. Fratz fängt es mit den Händen auf und kühlt damit ihr Gesicht. Neben der Pumpe liegen verdorrte Blumen und Kränze auf einem Haufen. Es riecht. Sie schaut sich um. Die Mutter ist immer noch am Grab beschäftigt. – „Wo war nur noch der Engel?“ überlegt das Kind.

Die Kleine achtet nicht auf das Hupen der Sirene, die aus der Mittagspause zurück an die Arbeitsplätze ruft. Barfuß trottet sie den Feldweg entlang. Die Sonne brennt auf ihre bloßen Schulterblätter und malt einen kurzen Schatten vor ihr auf den Boden. Bei jedem Schritt dringt Sand staubfein zwischen ihren Zehen herauf und rieselt sogleich am Fußrücken wieder hinab. Zurück auf der Haut bleibt ein samtig grauer Überzug. Winzige Glimmerplättchen schimmern darin wie zerstoßenes Perlmutt. Versunken in diesen Anblick setzt das Kind behutsam einen Fuß nach dem anderen auf.

Der Weg zieht sich schnurgerade zwischen Kornfeldern entlang bis hin zur Taxushecke des Friedhofes. Dahin will die Kleine. Sie hat die Mutter schon einige Male zum Grab begleitet. - Das Grab. - Das ist ein viereckiges Stückchen Erde, gesäumt von einer Einfassung aus niedrigem Buchsbaum. Der Bruder liegt dort, hat die Mutter gesagt, der Junge mit den blonden Haaren auf dem Foto im Wohnzimmer. Er ist gestorben. Was das bedeutet, weiß das Kind. Er ist tot – kommt nie mehr zurück. „Ge-stor-ben.“ Lautlos formen ihre Lippen das Wort, dehnen es, wie - um sich dadurch seine Bedeutung einzuprägen. Auch der Vater ist tot, aber er ist nicht gestorben, liegt auch nicht im Grab. Er ist gefallen. Im Krieg. Was das bedeutet weiß die Kleine nicht genau. - Sie hütet sich zu fallen.

Sie hält die Arme etwas vom Körper entfernt und balanciert entlang der ausgefahrenen Spur, in der die Reifen eines Treckers tiefe Abdrücke hinterlassen haben, bleibt stehen und gräbt die Zehen in den heißen Sand. Die dunkle Decke bricht auf und es quillt hell darunter hervor. Noch immer ist ihr Blick zum Boden und auf ihre Füße gerichtet, er hat jedoch einen nach innen gekehrten Ausdruck angenommen. Sie pendelt mit dem Oberkörper ein wenig hin und her, bis sie mit dem, was ihr durch den Kopf geht, zu Ende gekommen ist.


„Ich hätte Blumen mitbringen sollen“, denkt Hanna. - Früher hatte es eine kleine Gießkanne hinter einem Busch gegeben, damit hatte sie an der Pumpe Wasser geholt und anschließend die Blumen gegossen. Aber seit das Grab von einem Gärtner gepflegt wird, ist die Kanne verschwunden. Hanna weiß seitdem nie genau, was sie tun soll, wenn sie herkommt. Sie zupft noch einwenig Unkraut und legt es zu den abgerupften Blüten neben das Grab. Als sie sich aufrichtet, ist Fratz nirgends zu sehen.
„Fratz?“ ruft sie. Keine Antwort - alles bleibt still.
Hanna spürt plötzlich Ihren Herzschlag bis in den Hals, und es rauscht in ihren Ohren. Einige lange Sekunden ist ihr, als würde sie ohnmächtig. Dann befreit sich mit einem Ruck aus der aufkommenden Panik. „Fratz!“ ruft sie noch einmal, lauter. Aber der Schall verebbt. Hektisch blickt sie um sich. Dann bemerkt sie auf dem geharkten Weg die Abdrücke von kleinen Sandalen. Im Laufschritt folgt sie der Spur. – „Lieber Gott“, denkt sie, „lieber Gott.“


Als die Kleine wieder aufsieht, erblickt sie vor sich drei Paar Füße. Sie stecken in ledernen Schnürschuhen und Sandalen. Drei Jungen in kurzen Hosen, dicht aneinander gedrängt, versperren ihr den Weg. Einen davon kennt sie. - Heiko, den Größten, er geht schon in die dritte Klasse und wohnt mit seiner Mutter im Schulgebäude über den Unterrichtsräumen. Die beiden anderen sind jünger. Einer hat kurzes braunes Haar und einen Schopf über der Stirn. Die Hände in die Taschen seiner Lederhose gerammt, kneift er gegen die Sonne die Augen zusammen und nagt an seiner Lippe. Der andere ist ganz und gar farblos, er lehnt sich, an Heiko, als ob er Schutz sucht; sein Blick geht weit über das Mädchen hinweg. Nur Heiko schaut finster auf die Kleine hinab. Er ist gut einen Kopf größer als sie.
„Du kommst hier nicht durch“, sagt er mit einer Stimme, so kratzig wie Sandpapier.

Das Mädchen lugt zwischen blonden Fransen hindurch in das entschlossene Gesicht des Jungen. Der starrt zurück auf die kleine Person, in ihren gestreiften Spielhöschen mit herzförmigem Latz und den am Rücken gekreuzten Trägern.

„Leg dich hin“, sagt er.
Die Kleine rührt sich nicht.
„Los, mach“, drängt er.
„Warum denn?“
“Wenn du nicht tust, was wir sagen, hauen wir dich.“

Mit gespreizten Beinen steht der Junge vor ihr und hält sie mit seinen Blicken in Schach. Zurückweichend legt sie sich auf den harten Boden zwischen den Fahrspuren, ohne die Jungen aus den Augen zu lassen.



„Lass deine dreckigen Finger von meiner Tochter“, schreit Hanna dem Halbwüchsigen schon von Weitem entgegen. Ihre Stimme überschlägt sich. Der Junge steht verdutzt. Fratz schaut verunsichert. - Als Hanna bei den beiden ankommt, zittert sie so, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Sie geht neben Fratz in die Knie und packt sie am Arm.
„Was hat er dir getan?“ Ihre Stimme vibriert.
„Aber Mama“, stammelt Fratz, „ich hab' ihn doch nur gefragt, ob er mir vorliest, was auf dem Grabstein steht.“ Hannas Blick streift das Grabmal nur flüchtig. „Gott sei Dank“, sagt sie und drückt ihre Tochter an sich. Langsam weicht die Anspannung, ihre Arme werden schlaff, sie lässt das Mädchen los. - „Seine Oma liegt auch hier“, wispert Fratz ihr ins Ohr. - Der Junge ist noch immer da, als Hanna aufsteht. Sie schaut ihm an, als wäre er durchsichtig „Gehen wir?“ fragt sie und legt Fratz die Hand auf die Schulter. Das Kind nickt.

Sie verlassen den Friedhof durch eine schmale Eisenpforte an der Rückseite und kommen auf einen Sandweg. Er führt an Stoppelfeldern entlang und mündet in der Ferne in eine Allee.
„Komm. Ich zeig dir, wo ich früher gewohnt habe“, sagt die Mutter. „Siehst du, da ist es“, sie deutet auf das erste Haus an der Straße. „Soooo weit?“ mault Fratz und lässt sich in den Sand plumpsen, „ich bin müde.“ -„Das ist nicht weit“, sagt Hanna, „ich bin hier früher oft gegangen.“ - „Wie alt warst du da?“ Fratz versucht Zeit zu gewinnen. „Nicht ganz so alt wie du.“ Hanna bemüht sich, das Kind vom Boden hochzuziehen. „Darf ich barfuß gehen?“ Fratz ist schon im Begriff die Sandalen abzustreifen. - „Kommt nicht in Frage, du könntest in eine Scherbe treten.“ Hanna hockt sich zu ihrer Tochter und zurrt die Sandalen wieder an den Füßen fest.
„Mama - warum warst du vorhin so böse?“
„Ich war nicht böse, ich hatte Angst.“
„Warum?“ Fratz lässt nicht locker.
„Das erzähl ich dir vielleicht später mal“, weicht die Mutter aus.

„Zieh die Hose aus“, befiehlt Heiko.

Zögernd streift das Kind die Träger herunter und schiebt den gekräuselten Bund des Höschens bis hinunter auf die Oberschenkel.
„Weiter“, fordert er.
„Ich will nicht.“ Die Kleine richtet sich auf, zieht die Knie zu sich heran, umschlingt sie und presst sie so fest gegen den Oberkörper, dass sie kaum noch Luft bekommt.
„Dann hauen wir dich eben“, droht Heiko noch mal und stößt mit den Ellenbogen seine Freunde an. Die Jungen nickten.

Sie windet sich. Schließlich schiebt sie das Höschen hinunter, erst bis zu den Knien und weiter bis an die Knöchel. Dann legt sie sich wieder hin. Den Kopf zur Seite gedreht schaut sie zwischen die dicht an dicht stehenden Halme des Kornfeldes. Sie versteht nicht, weshalb sie sich so hinlegen soll; aber es ist nicht richtig ist so zu liegen, das spürt die Kleine genau. Sie schämt sich; will aufstehen, weglaufen - weg, so schnell sie nur kann. Aber sie kann nicht. Sie zittert wie unter einem Schüttelfrost. Es gibt nur noch diesen Weg und die drei Jungen - alles andere ist weit fort. Ein Stein drückt; sie traut sich nicht, sich zu rühren. Zwischen ihren Zähnen knirscht Sand. - Die Jungen tuscheln leise. Verstohlen blinzelt das Mädchen in ihre Richtung.

„Beine breit“, kommandiert Heiko. Die Kleine gehorcht.
Sie sieht ihn auf sich zukommen. Schnell presst sie die Lider zusammen. Dann spürt sie sein Gewicht auf ihrem Körper. Sie hält die Luft an, macht sich steif –hört wie er stoßweise atmet. - Wird er ihr weh tun? - Sie macht die Augen auf. Sein verschwitztes Gesicht ist genau über ihr und sie blickt ihm geradewegs in die Augen. „Wehe, du sagst was“, zischt Heiko. Die Haare hängen ihm in die Stirn und verschatten sein Gesicht. Mit einem Mal lässt er sie los. Gleich darauf poltern die drei Jungen an ihr vorbei.

Die Kleine bewegt sich nicht, bis es ganz still geworden ist. Dann öffnet sie die verkrampften Finger, setzt sich auf, zieht die Hose hoch, streift die Träger über, streicht den Sand von den Schenkeln und steht auf. Über die Schulter schaut sie hinter sich. Da an der Straße steht das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter wohnt - aber auf halbem Weg stapfen die drei Jungen nebeneinander eilig davon. Der Dunkelhaarige dreht sich um, hebt einen Stein auf und schleuderte ihn in ihre Richtung. Doch der Stein geht weit entfernt flach in den Sand.



Hanna runzelt die Stirn, und schaut hinüber zum Haus. Die quengelnden Fragen ihrer Tochter dringen nicht zu ihr durch. – „Wehe, du sagst was...“, summt es in ihrem Kopf ‚ „wehe, du sagst was.“ - Hanna versucht es mit aller Macht zu ignorieren. „Es ist alles schon so lange her...“ -
„Komm jetzt“, sagte sie entschlossen und klopft Fratz den Sand von den Füßen. „Wir wollten doch noch Eis essen.“
Als sie sich der Straße nähern, kommen ihnen drei Jungen entgegen. Schweigend drücken sie sich an einander vorbei. Als sie auf gleicher Höhe sind, macht Fratz ihnen über die Schulter hinweg eine lange Nase, wirft den Kopf in den Nacken und kichert übermütig. In den Augen des Kindes spiegelt sich das tiefe Blau des hochsommerlichen Himmels.

Oktober 2002
© sigrid kriener

 

        

 

 

             


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