Alte Schärfe
Gestern am Spätnachmittag, draußen war es schon dunkel,
klingelte es an der Wohnungstür. Ich öffnete. Im kalten
Treppenhaus stand, in gebührendem Abstand, ein kleiner
grauhaariger Mann im Blaukittel. Es war offensichtlich, daß er
mir eine Dienstleistung anbieten würde. Normalerweise wimmle
ich Hausierer ab, wenn möglich. Doch der Mann hatte irgend
etwas an sich, - war es die gepflegte Erscheinung oder der
wache Blick seiner hellen Augen? - was mich veranlaßte ihn zu
fragen, was es gäbe. Er lächelte. “Raten Sie!“ –
„Scherenschleifer?“ antwortete ich nach kurzem Zögern. Er
nickte anerkennend. „Schon in der dritten Generation.“ Wie zur
Bestätigung hielt er mir umhüllt von einem angegrauten
Putzlappen einige Scheren und Messer entgegen. „Die mache ich
für... äh... 4. Stock…Dr. ...äh...“ Er deutete mit dem
Putzlumpen in den Treppenschacht hinauf. - „Schilling.“ - „
Jawoll. Haben Sie auch etwas zu schleifen – Messer, Scheren?“
Er sah mich von unten herauf an, abwartend und taxierend.
Eigentlich wollte ich, wie gewohnt, mit „Nein, danke“
antworten, doch bisher hatte ich mich jedesmal, kurz nachdem
ich einen Scherenschleifer abgewiesen hatte, über stumpfe
Messer und Scheren in unserem Haushalt geärgert hatte. Also
fragte ich vorsorglich nach dem Preis der Arbeit. Der Mann
schüttelte unwillig den Kopf. „Zeigen Sie mir, was Sie haben,
und ich sage es Ihnen dann.“ Ich ließ ihn an der Tür stehen
und kramte schnell einige stumpfe Scheren und Messer zusammen.
Der Scherenschleifer prüfte sie, indem er sie nach beiden
Seiten wendete und mit dem Daumen behutsam die Schneide
entlang fuhr. Er erklärte mir die verschiedenen Schliffe. „Das
hier ist ein gutes Stück“, sagte er und deutete auf eine lange
Papierschere, die Rost angesetzt hatte. „Und die da auch.“ Er
untersuchte eine Schere von mittlere Größe, „die kann ich
Ihnen auf Stoff schleifen. Nicht wegwerfen!“ „Das habe ich
auch nicht vor“, entgegnete ich. „Aber was ist denn Besonderes
daran?“ „Die ist alt“, sagte er, „richtiges Metall. Schauen
Sie mal. Das ist grau, so ein bißchen dunkel. Das ist gut.
Kein Blech. Was oftmals so glänzt ist Blech.“ Dann griff er
nach der Frisörschere. „Oh, was ist das? Ein Lehrschere ist
das. Auch ein altes Stück. Da, an diesem kleinen Bügel stützte
der Daumen. Bewegt wurde nur der Teil in den der Zeigefinger
faßt.“ Er führte es mir vor. Ich nickte. - Unversehens fand
ich mich wieder in dem dämmrigen Frisiersalons der 50er Jahre,
mit dem wuchtigen Frisierstuhl, den ovalen Spiegeln.
Haarwaschbecken, Trockenhauben, Lockenwickler. Haarsträhnen
auf weißen Frisierumhängen und dem geflammten Linoleumboden.
Ich hörte das Klappern der Schere. In den schmalen Regalen
neben den Spiegeln, Behälter mit kleinen quadratischen
Schampookissen, gelb, grün, eisblau. Ich schnupperte. Es roch
nach Dauerwelle und Haarspray. An den Wänden Plakate mit
Filmschönheiten, auf dem dreibeinigen Tischchen in der Ecke
die „Mappe“. Revue, Quick, Kristall, Stern. –
Ich vertraute dem Mann meine Schätze an und trug ihm noch eine
Bartschere hinterher, als er sich anschickte, sie vor dem Haus
an seinem Schleifbock zu bearbeiten. Nach etwas mehr als einer halben Stunde
bekam ich alles zurück, wie es sein sollte. Nicht wie neu,
aber scharf. Ich zahlte, was er verlangte. "Das hält jetzt
wieder für eine Weile." sagte der Scherenschleifer. Einen
Augenblick standen wir uns schweigend gegenüber. Seine
eisblauen Augen mit den kleinen Pupillen schauten mich
ungewöhnlich direkt an. Dann hob er die Hand und winkte
mit den Fingern zum Abschied, als wären wir alte Freunde. Er
drehte sich um, schob den grauen Lappen in seine Kitteltasche
und ging den Hausflur hinunter. Ich sah ihm nach. Die schwere
Haustüre mit den Kassettenfenstern schlug hinter ihm zu. Einen
Moment lang blieb er im Eingang stehen. Draußen fiel ein
feiner Nieselregen. Dann erlosch das Licht im
Treppenhaus und vor der Tür.
© sigrid kriener
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