Katatonien
Die Sonne über Katatonien fällt mit hypertropischer
Geschwindigkeit hinter den westlichen Horizont. Der Dampfer
beendet seine Trödelei vor der Hafeneinfahrt und zielt durch die
beiden im Dämmer aufglühenden Leuchtfeuer auf sein Anliegen am
Pier. Mit dem Erlöschen der grauvioletten Abendschatten, die lang
und spitz auswachsen, bevor sie schließlich ermattet in die
steigende Nacht hinein verfließen, schlägt der Hafen die Augen
auf. Staunend steht unser Peinlich an der Reling des an die Poller
gleitenden Schiffs. Er hat einige der großen Häfen am Meer
bereist, er kennt auch den Flußhafen des Zentrums. Oft stand er
dort im Gewimmel von Reisenden aus dem Schublosmos oder zwischen
Reisegesellschaften aus noch unwahrscheinlicheren Gegenden und
suchte nach Ankömmlingen aus seiner bitteren Heimat. Doch in all
seiner jähen Vielfalt an Bildern, Tönen und Gerüchen hält selbst
der Zentrumer Hafen seiner Erinnerung keinem Vergleich mit der
plötzlichen, überwachen Lebhaftigkeit des hiesigen stand. Wie ein
heftiges Gewitter das vormals trockene Kiesbett in einer Woge zum
reißenden Fluß umtauft, so schwillt der Verkehr auf der nun von
halogenem Licht überfluteten Hafenstraße und den weiß beleuchteten
Docks. Auch die eben noch in der Abendsonne hermetisch geduckten
Gebäude leuchten jetzt hellwach aus ihren überall geöffneten
Fenstern und flackern bunt an den Fassaden. Bis hinauf in die
hügeligen Ausläufer des Vorgebirges glimmen die grellen
Perlenschnüre der nächtlichen Lichter. Hamsterdamm, die
katatonische Hafenstadt, hat sich aufgeschminkt und strahlt
einladend ihren abendlichen Gästen entgegen.
Ein sanfter Stoß geht durch das Schiff, Die Gangway zum Kai wird
ausgefahren. Ungeduldig trippeln und trampeln erste Passagiere die
eisernen Stufen hinunter. Der Sindbad bedeutet dem Peinlich, sich
zu beeilen, da die kurze Nacht genutzt werden müsse. "Reisen
geschieht hierzulande entschlossener als anderswo "sagt er , schon
im Landgang begriffen.
Auf dem Boden Katanoniens angekommen, drängen die beiden durch ein
dichtes Gewühl von Küssen, Umarmungen jubilierenden Grüßen und
herzzerreißenden Abschieden, den ihre Räume anpreisenden
gestikulierenden Herbergsdienern, einem Dutzend die Menge
durchpflügenden Mietwagen, einigen wie Maulesel schreienden
Nußverkäufern, den gestikulierenden Reiseleitern der kleineren
Boote, die bereit liegen zur Weiterfahrt in die Dörfer am Fluß.
Durchdringender Duft von gebratenem Jovial liegt in der lauen
Luft, kurzfristige Stellwände voller Scherenschnitte stehen längs
der Anliegestellen aufgebaut. Scherenschnitte sind hierzulande en
vogue und die sie schneidenden Künstler geachtete und gefürchtete
Sonderlinge, die außerhalb der üblichen Siedlungen wohnen und dem
Vernehmen nach verstörend guten Umgang mit ihren Schatten pflegen.
Der Peinlich tappt benommen umher, sucht mit allen Sinnen das
südlichere grelle Geschehen einzufangen und zu bewahren für
spätere Schilderungen. Da wird er rücklings am Ärmel gezogen. Er
dreht sich um. Vor ihm steht ein Knabe: Er ist dem Ernst der
Situation vom Ottendichel wie aus dem Gesicht geschnitten. "Suchen
sie nicht weiter. " zischelt ihn der Junge an. " Was ich ihnen
bieten kann, werden sie nirgendwo sonst finden." "Woher willst Du
wissen, was ich suche ?" fragt der Peinlich verwundert, doch dann
wird ihm klar, daß ja etwas geschehen muß in dieser Erzählung, die
er auch mitschreiben wird. Und so folgt er dem Jungen, der seine
Frage keiner Antwort würdigt, stattdessen umgreift, vom Ärmel an
das Handgelenk, und ihn hinter sich her aus der lauten Helligkeit
in eine Seitenstraße zerrt. Hohe unbeleuchtete Häuser, deren
Giebel sich zueinander neigen und nur einen schmalen Streifen des
nächtlichen Lichtergeflirres herabdringen lassen. Matt nur glimmen
gelegentliche Lampen an den eisernen Türen. Um zwei Biegungen der
sich dabei verengenden Gasse führt er ihn vor ein Tor aus dunklem
Glas. "Hier kannst Du dich mit den schönsten Schatten Katatoniens
vergnügen, mit gezähmten und gehorsamen Dienerinnen und Dienern,
mit finsteren Wesen aus deinen fremdesten Träumen. Alles ist hier
möglich !" Der Peinlich lauscht verwirrt auf die plötzlich ebenso
vertrauliche wie unsittliche Anrede des verworfenen Kindes. Er
beglotzt ratlos und verlegen sein vages Spiegelbild in der trüben
Reflexion der gläsernen Pforte. Da fließt und wabert die
Spiegelung, die verfließende Reflexion des Peinlich gerinnt zum
klar umrissenen Sindbad, der auch sofort aus der Spiegelung ins
Gespiegelte tritt.
"Wir sollten in den ersten Stunden unseres hiesigen Aufenthalts
keine getrennten Wege gehen " sagt er zum Peinlich. "Wir sollten
zusammenbleiben und zusammen schreiben. Hierzulande ist die Gefahr
groß, sich in der Sphäre der Abbilder zu verirren und des Gefühls
für die Ursachen verlustig zu gehen. Für einen guten
Schattenringer fehlt dir außerdem noch viel Kraft und alle
Erfahrung."
"Wie hast Du mich gefunden und woher kommst Du ?" fragt der
Peinlich ratlos. Der Sindbad antwortet lächelnd, dabei den
Peinlich zurück auf die breite helle Straße führend "Wir schreiben
gegenwärtig an derselben Geschichte. Diese wiederum führt den
gleichen Text entlang. Ich habe bereits zu schreiben begonnen und
werde Dir die bisherigen Seiten zu weiteren Verarbeitung
übergeben, sobald wir aus dieser Spiegelfalle heraus sind."
Der Peinlich dreht sich noch einmal um. Vor der letzten Biegung
steht der junge Aufreißer, rücklings umklammert von seinem
Schatten, den nur matt und vage zu werfen die trüben Lampen der
Gasse imstande sind. Der Schatten bäumt und krümmt sich wie ein
Skorpion in der Häutung Er gleitet zuckend an seinem Urbild empor,
hockt sich auf dessen Schultern und versucht seine Kehle zu
umklammern. Doch der Knabe entledigt sich seines Angreifers mit
einer nachlässigen, wie nebenbei ausgeführten Geste. Er wirft den
Schatten auf seinen ursprünglichen durch die Lichtquelle
bestimmten Platz zurück. Dann winkt er mit einer Handbewegung, in
der sich Hohn und Verzweiflung exakt die Waage halten, dem
umsichtigen Peinlich zu und glitscht wie ein Glasaal durch die
gläserne Pforte.
Der Peinlich tappt mit rückwärts gewendetem Gesicht, verstört
durch dieses letzte undeutbare Zeichen des kleinen Zubringers. Er
läuft deswegen auf am Rücken des jählings im Schritt einhaltenden
Sindbad. Vor ihnen, an der Einmündung der dunklen Gasse ins
glitzernd lebhafte Geschehen der hauptsächliche Straße steht, auf
seinen Schlangen-stab gestützt, ein fadendünner, wild nach Innen
blickender, in wüstes Gewebe gehüllter Männlich. Sein hageres
Gesicht ist von der Sonne dieses harten Landes gefurcht und
geledert. Seine wie zum blutigen Streit gebogene Nase nimmt
schnüffelnd die Einvernahme der Botschaften des Außen vor. Der
ausgemergelte Leib hingegen krümmt sich unter den heftigen
Gewittern seiner Innenwelt. Jetzt richten sich die Augen für einen
kurzen Moment nach draußen, auf die beiden vor ihm stehenden
Reisebeschreiber. Das wahre Fangeisen von Mund, bisher im Schatten
der herrschsüchtigen Nase verborgen, schnappt auf. "Ich bin am
Hofe des Apathen vorbei, auf meinem Wege hierher zum Wasser, ich
bin vorbei, um unseren mächtigen Bruder und Vorstand, dem Apathen
von Katatonien, die Referenz zu erweisen. Ich habe von ihm einen
Botschatten an euch mitbekommen. "
Der Männlich, einer aus dem Stamme der Stuporen, greift um sich,
unter den Schatten seiner selbst, der ihm im nächtlichen Licht
schlaff und kraftlos über den Schultern hängt. "Hier ist der
Kundschatten, der euch die Nachricht bemerkt." Er zieht eine
willenlos baumelnde Abschattung hervor und wirft sie vor die
beiden Reisenden hin auf den Boden. Der Schatten wabert über den
hellen Asphalt. Er streckt und windet sich wie eine Schnecke im
Feuer. Er fährt polypengleich seine Gliedmaßen aus. Zur nächsten
Hausecke kriecht er, und an ihr empor bis auf Menschenhöhe. Er
gestaltet sich bis in die dunklen Umrisse eines kündenden Boten
hinein. Vom zuletzt ausgestülpten Kopf her klingt des Botschatten
Parodie einer Stimme, muffig und verschwommen tönt sie, als
spräche ein Mund voll weißgrauer Asche in die erwartungsvollen
Ohren von Schreiberlingen und Leserschaft. "Ich selbst und
höchstselbst, Letharg aller Lethargen, Rochus der Endgültige,
Apath von Katatonien gebe hier und jetzt und immerdar durch diesen
und nur durch diesen Botschatten, dessen Name lautet: Botschatten
an Sindbad den Ölfahrer, folgende Botschaft an den Sindbad und
seine Begleitung, die besteht aus dem Peinlich B. vom Ottendichel
und dem Leser von Anderswo. "
Dem Peinlich wird bei all dieser mit trostloser Stimmlichkeit
vorgetragenen förmlichen Gestelztheit wunderlich traurig zumute.
Er läßt die Mundwinkel hängen und auch die Backen drumherum. Der
Sindbad sieht's und flüstert ihm zu : "Dieses sture Gerede ist nur
das offizielle Sprachsiegel, das jeder Botschatten eingeprägt
bekommt. Gleich wird's lockerer und verdaulich vertraulich. "
In der Tat: der Kündschatten hält einen Augenblick inne und sackt
zu rundlichem, zwangloserem Umriss an der Hausmauer. Auch die
Stimmlage erhebt sich von graukalter Amtlichkeit zu hell-fröhlich
glimmender Schlacke. " Ahoil, Sindbad, welterfahrener Sohn der
westlicheren Gefilde. Ich habe von deinem Kommen durch die
Flußsteinchen vernommen. Warte nicht den künftigen Tag ab, sondern
nimm eine Taxonomie und laß Dich noch vor Abbruch Dunkelheit in
den Palatsch bringen. Ich harre Deiner und Deiner Begleiter. Bis
gleich, Dein Rochus, Apath von Katatonien. " Noch schwingt die
Kunde in allen Trommelfellen, da schrumpft der Botschatten, seines
Auftags entledigt, in seine ursprüngliche Gestalt. Der dunkle
Schattenriß eines kahlen mürrischen Vogels hockt am Fuße der
Hausmauer. Sein Überbringer vom Stamme der Stuporen stand während
der Kundgabe schweigend abseits. Nun tritt er hinzu und ergreift
das am Boden kauernde Abbild. Dieses erschlafft und liegt dann als
schwärzliches Gebaumele in des dünnen Mannes Hand, wird
zurückgeschoben unter den Umhang. Der Männlich dreht sich grußlos
und vergeht.
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