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Begegnungen der besonderen Art


 

König - Dichter - Schild / Märchen

 

 

 

 

 

 

 

 




 

Vaterfreuden

Ein Pflegebericht


Zustand und Alter des Vaters graduieren den Wunsch zum Befehl. Lautet der: 

"Lege die sicher mitgebrachte Platte ein, das immer gleich abwechslungsreiche Mitbringsel, deine Brücke aus der Abwesenheit", trollt sich der Sohn. 

Kehrt er ans Pflegebett, das ihm unheimlich scheint, da es, obwohl mit Rädern versehen, niemals durch die Wohnzimmertür passen würde, zurück, legen sich die im Aquarium der Starbrille schwimmenden Augen auf ihn. "Was gibt es denn diesmal? Noch eine Schlusnus?" 

"Nein Vater, es ist Tschaikowski." Der Sohn verschweigt, eine CD aus der eigenen Sammlung gerissen zu haben. Für den Händler war keine Zeit geblieben. 

"Tschaikowski? Nun, es gibt Schlimmeres. Was ist es denn? Die Revolutionsouvertüre?" 

"Nein, Vater, ein Klavierkonzert." Des alten Mannes Blick entrinnt in die Bücherwand. "Aber nicht das Erste? Du warst wirklich schon besser! Aber bitte, immer der Mode nach: Komm, lege es auf, ich werde dir auch in diesem mittlerweile verhurten Stück noch überraschende Stellen zeigen. Voran! Lege die Joghurtreklame ein!" "Nein Vater, es ist nicht das Erste. Es ist das Zweite. G-Dur." Das war nicht für den Vater bestimmt, ein eiliger Fehlgriff, er würde eine neue CD besorgen müssen. Die sonst nur noch fallenden Züge des Vaters kommen in Bewegung. "Das Zweite, na du hast Humor! Sehr gute Wahl, aber eine Frechheit, wenn es deine ist. Wir besassen die schon einmal, als LP, widerlich braune Hülle mit gelber Schrift. Die ist aber weg. Ganz plötzlich war die weg. Und nie wusstest du, wo sie sein könnte. Sicher hast du gedacht, mir wäre ihr Verschwinden gleich. Dabei habe ich die sehr oft gehört. Igor Shukow und das Grosse Rundfunk-Sinfonie-Orchester der UdSSR. Ein einmalige Aufnahme! 

"Vater, ich wusste nicht... "

"Du hättest fragen können!!" 

"Ich dachte es sei irgend so ein Geschenk, du hörtest doch niemals Klavierkonzerte."

"Das schon!" 

"Aber wie sollte ich das wissen?"

"Fragen! Wer spielt denn nun auf deiner da?" Der Sohn muss nicht hinsehen. "Es ist dieselbe Vater!" "Was? Späte Reue, oder warum bringst du mir die nach fast zwanzig Jahren wieder?" Schulterzucken. Das dem Vater so viel daran liegt, irritiert den Sohn, auch er hat sich diese CD nicht zufällig gekauft. 

"Der Arzt sagt, ich soll viel trinken, also geh mal und hol bei der Mutter so ein Getränk, das mich neunzig werden lässt." Artig geht der Sohn nach nebenan in die Küche und mixt unter den Anweisungen seiner Mutter Mineralsprudel mit Diabetikersaft. Der angepeilte Geburtstag soll in zwei Wochen stattfinden. "Was macht ihr?" fragt die Mutter. 

"Musikstunde. Tschaikowski." 

"Oh schön, aber pass auf, das er im Eifer nicht wieder einpinkelt. Du wechselst die Sachen! Und schneid eine Kiwi rein! Vitamine!!!, predigt der Doktor ." Das Haarei legt sich in die durch Millionen Messerstriche geschnittene Kuhle. Der Sohn hat sich ein ähnliches Schneidbrett zugelegt und wartet auf eine ähnliche Vertiefung. Noch war nichts zu sehen. Aber sie würde kommen. Die Kiwiwürfel gleiten ins Trinkgefäss. "In einer Stunde gibt es Essen. Seid ihr bis dahin fertig?" 

"Denke schon", brummt der Sohn, geht ins Wohnzimmer und stellt die Schnabeltasse auf den Betttisch.

ALLEGRO BRILLANTE

"Vater, ich lege jetzt die Platte auf." 

"Ja, tu das, mein Sohn, und nimm die Fernbedienung." 

Die ersten Schwerakkorde ertönen. Der Vater summt das Blech und dirigiert den Rest. Auch nach dem Sohn greift die Musik. Die, die ihn, schon mit zwölf aus dem Konzertsaal hinaus, in ihr Gebälk gesogen hatte. Dem freundlichen, sich zu einem veritablen Streit mausernden Ringen zwischen Soloinstrument und Orchester lauschend, bereitet er sich auf den Kumulationspunkt vor, an dem das Klavier, zur Krönung der brachialen Kadenz, die Gewalt der sich entgegensetzenden schweren Orchesterakkorde bricht und das Ganze mit einem nur einen Takt lang zu hörenden Triller auf dem Triller implodieren lässt. Der erste musikalische Orgasmus, den er erlebte, und das erste Musikstück, welches er im Duktus des Vaters beschreiben gelernt hatte. Seine Hände schlagen einen Takt in die Sofakissen. "Zu Früh! Zu früh!", erweckt ihn der Vater. "Die Stelle auf die du wie wild hin trommelst, kommt später. Du müsstest doch die Aufnahme nach siebzehn Jahren kennen. Lange nicht gehört, was?" 

"Ein paar Jahre Vater. Und so wie damals nie wieder." Natürlich hatte er sie immer wieder gehört, bevor er sie jeweils verschenkte. "Reingehört" sagt man dazu, wie: "etwas durchsehen". Beim "Reinhören", meist als Grundierung der dem Koitus im fremden Haus vorangehenden Autofahrt oder eines Putztrips durch die Yuppieküche, so die Begegnung bei ihm stattfand, entfachte nichts , tobte kein Sturm. Statt dessen wurde Erinnerung wachgerufen und später verschenkt. An Frauen. Frauen, die es ihm Wert waren, von seinen alten Stürmen zu wissen. 

"Halt mal hier an! Das hat dir mit fünfzehn gefallen?" 

"Ja, Vater, ihr nahmt mich mit zwölf in ein Konzert mit, und später fand ich dann die Platte in deiner Sammlung." "Ich dachte immer, Schumann und Brahms hätten deinen kurzen Sturm und Drang begleitet?"

"Später, Vater. Angefangen hat alles damit." 

"Verwunderlich." Ungelenk laviert der Greis ein riesiges Taschentuch unter der Tagesdecke hervor und versucht die Perle an der Nase zu fangen. Sein Sohn hilft. "Danke, mein Sohn. Weißt du, die einzige Emotion, die mir in diesem Satz zu liegen scheint, ist Wut. Höchstens. Höchstens, weil sie nicht gemeint ist. Die Flügelschläge gegen das Orchester, das seine hochgerüstete Schwerfälligkeit zelebriert, werden derart verbissen gesetzt, das ich nur Wut höre. Wut über einen Kampf, den der gute Pjotr, des Sieges völlig sicher, des Kampfes willen führen muss. Auch die feinen Stellen scheinen mir nur Mittel zu sein, Mittel zur Zersetzung orchestralen Bombasts. Ein Lehrstück. Eine Parade der Möglichkeiten. Waffenschau. - Merkste? Ich kann noch! - Es handelt sich nicht um ein romantisches Musikstück, eher um die Vorführung eines solchen."

"Vater können wir weiter hören? Sonst kommt uns Mutters Sauerbraten in die Quere!" 

" Ja, du hast recht, mein Sohn, erst kommt das Fressen. Mach weiter!" Das besprochene Furiosum scheint dem Sohn verloren, und er drückt den langsamen Satz. Der Alte bekommt Farbe: "Mach da weiter, wo wir aufgehört haben! Ewiger Betrüger!" 

Wieder hören sie das Solo. Der Sohn sieht auf das gegenüber liegende Dach, ein Blick der Kindheit. Auch jetzt liegt alter Schnee darauf. Wie damals, als er diese Platte in der Rekonvaleszenzphase einer Mittelohrentzündung ständig hörte. Wahrscheinlich war es gerade dieser wüste Satz, der ihm seinen ersten Liebesbrief eingegeben hatte. Ausser ekligen Schmerzen und dem Fieber hatte ihm die Krankheit seine erste grosse Verliebtheit beschert. Eine der Heftigen, eine, die Illusion blieb. Der lange Fussmarsch zurück aus dem Kino vor das Haus einer Steffi aus der Parallelklasse und die Viertelstunde erbärmlichen Gestammels hatten ihm wohl die auslösende Erkältung eingebrockt. In den Fieberträumen gedieh ein Sehnen, das er in der Musik wiederfand. Musste der Komponist nicht gleich ihm gelitten haben? Hörte er da nicht einen Schrei nach Liebe? Plötzlich ausgerüstet mit derartigen Vokabeln, war es nur logisch: er musste sich erklären. Der Brief wurde acht Seiten lang, und als er zu hören bekam, dass das alles vor versammelter Klasse vorgelesen worden war, litt er seine erste Liebesheilung, was die eigentliche Krankheit verlängerte. 

Die Musik wird wieder furios. Laut lässt der Vater die Tasse auf's Spelacart vor seiner Brust fallen. "Mir fällt da ein", schreit er gegen die Musik, "Frau Elisabeth Stolze knallte bei einer Probe genau an der Stelle den Deckel unseres städtischen Konzertflügels zu und verliess heulend den Saal." 

"Wer krachte?" Der Sohn stoppt wieder. 

"Elisabeth Stolze. Das war in den fünfziger Jahren. Ich war damals ab und an als Aushilfsgeiger engagiert. Ein Pianist sagte kurzfristig ab, das Stück war aber schon fast durchgeprobt. In der Not erinnerte ich mich meines alten Berliner Klavierlehrers und rief ihn um Hilfe an. Der zögerte nicht lang und schickte seine Frau, eine in den vierziger Jahren hoffnungsvolle Pianistin, die unter den Nazis zu einigem Ruhm gekommen war. Sie beherrsche gerade dieses Stück, als sei es ihr eigenes. Froh sich wieder ins Gespräch bringen zu können, erschien die Dame. Hoch nervös. Nach all den Mutterkreuzkonzerten und Frontbetreuungen wollte sie sich der neuen Macht nun mit Tschaikowski andienen, Stalin hatte ihn neunzehnhundertvierzig eingemeindet. Für einen frühen Tschaikowski war sie zu zirkuliert. Aber technisch erstaunlich für jemanden, der einige Jahre aus dem Konzertbetrieb war. Sie kämpfte berserkerhaft gegen sich, gegen Tschaikowski und vor allem gegen das Orchester. Es sollte werden und wurde nicht. Und wir waren schuld! Zu laut, zu ungenau, grundsätzlich unharmonisch. In Anbetracht der drängenden Zeit hatte ihr der GMD den ersten Satz nur noch einmal zugestanden. Tja, und dann flog der Deckel. Ich ging ihr nach und fand sie weinend im Theatergarten. Ich konnte immer gut mit Frauen und hörte mir alles an, Scheissorchester, Scheissstadt, Scheissstaat! Jeder wolle ihr übel! Wegen ihrer Vergangenheit! Dabei kenne sie das halbe Orchester samt GMD noch aus dieser. Ich tröstete sie. Redete vom Hafen des Künstlers, der die Kunst sei und nicht irgendein Staat oder ein Regime. Und ich empfahl ihr dringend, in die Westzone zu wechseln, wo eine gebräunteVergangenheit zumindest mal nicht hinderlich wäre. Nie vergesse ich den hohen Blick, mit dem die Dame auf mich sah, als sie mir die Hand tätschelte; erstaunliche Tips gebe da einer, den sie für einen flotten Neukommunisten gehalten habe. Wäre da nicht die blinde Mutter ihres Gatten in der Villa auf dem Weissen Hirsch, " wir wären schon lange weg, mein Gutster". Ich tätschelte zurück, und bald sass die empfindliche Frau wieder am Flügel. Wir kamen durch Probe und Konzert, eine Rezension, die ich der Einfachheit halber gleich selbst schrieb, druckte unser Parteiorgan, jedoch ohne die Solistin mehr als namentlich zu erwähnen. Einige konnten sich wohl noch gut an sie erinnern. Der war es egal, sie verliess unsere Stadt schnell. Nicht aber mein Leben."

Zurückgelehnt hören sie den Rest des ersten Satzes. 

ANDANTE NON TROPPO

Das warme Bett der Violinen bereitet sich den Beiden. Andächtig starrt der Vater zur Decke, der Sohn weiter aus dem Fenster. Versuchte der Sohn, bei den wenigen Frauen, die er würdig fand, mit dem ersten Satz auf vergangene Stürme und damit indirekt auf noch wehende Winde zu deuten, so war es doch heute eigentlich mehr das gegenseitige Umschmeicheln von Violine, Cello und Piano im Liedsatz, das seine Seele koste und ihn glauben machte, ein Tiefempfindsamer zu sein. Auch der Vater versinkt im betörenden Beginn des zweiten Satzes. Ungebremst rinnt der Speichel aus dem tieferen rechten Mundwinkel. Der Sohn reicht ihm das Tuch, in das hinein der Vater zu sprechen beginnt: "Ein schönes Beispiel von zuviel. Durch die nachschwelenden Explosionen des ersten Satzes geht die Schönheit dieses langsamen fast unter. Eigentlich ist das ja der Herzsatz, wenn man den nimmt, der Träger der Seele des ganzen Stückes ist. In dieser Stille liegt die Kunst, sie wirkt stiller durch den Radau von vorhin. Tschaikowski kommt hier zur Ruhe. Ruhe nach der Flucht im ersten Satz. Flucht durch Birkenwälder und lange Landschaften. Lässt er das Piano sich dort noch um Kopf und Kragen spielen, schliesslich läuft ein junger Mann davon, singt er uns hier ein Schlaflied; er und wir sind in Sicherheit. In dieser einfachen Form Zuneigung, dem liebevollen Streicheln über den Kopf eines Einschlafenden, findet er Ruhe. Er lässt die lyrischen Stimmen frei. Mir scheint dieser wehmütige Satz der Wahrere zu sein. Das Pathos im zweiten Drittel würde ich mit der Zeit begründen. Und dem Heimweh, wenn wir den ersten Satz als Bild der Flucht nehmen. Diese greinende russische Melodei ist Heimweh. Russisches Heimweh."

Der Sohn staunt und fragt in die perlende Auflösung des Satzes: "Da war Tschaikowski also schon in der Schweiz?"

"Ja, mein Sohn! Auf jeden Fall hat er es dort orchestriert. Nichts Genaues weiss man nicht." Der Sohn nickt: "Die Flucht vor der aus Räson geehelichten Ungeliebten. Und der zweite Satz illustriert seinen Trost in den Armen eines Reisebegleiters." "Pfui! Pfui! Pfui!", erbost sich der Vater. "Ausspucken möchte ich. Einfach macht ihr es euch! Als ich das Stück vor siebzig Jahren studierte, wusste auch jeder, der es wissen wollte, warum Tschaikowski in dieser Ehe unglücklich war, ohne dass es für die Interpretation irgendeine Rolle gespielt hätte. Wir haben uns für die Dramatik in der Musik interessiert und nicht für die Dramatik im Schlafzimmer des Komponisten!" "Aber Vater, gilt dieses Konzert nicht bei vielen als zweitrangig, da es dem sonst so perfekten Tschaikowski mehrfach überkocht?" "Ja, natürlich! Aber warum soll ich dahinter seine Homosexualität sehen? Die Entstehungsgeschichte dieses Konzertes war immer eine geheimnisvolle, und Homosexualität gab es auch Ende der zwanziger Jahre schon. Es wurde nur nicht öffentlich darüber geredet. Und damit auch nicht soviel Unsinn! Suche deine Widersprüche im Werk. Wenn schon! Die Musik ist das Thema. Meinte übrigens Frau Stolze damals auch. Sie schrieb mir ein halbes Jahr später einen Brief und bedankte sich. Ich sei, in dieser für sie schwierigen Zeit, einer der wenigen verlässlichen Menschen gewesen. Die Einladung, das Stück in Schwerin zu spielen, schrieb sie einer Intervention meinerseits zu, die es nie gegeben hatte. Sie wünschte mich bei den Proben im Saal. Ich fuhr hin und erlebte eine völlig andere Elisabeth Stolze. Konvulsiv legte sie einen ersten Satz hin, wie ich ihn noch nie gehört hatte, um dann im zweiten, einem Schmetterling gleich, schwerelos um unsere Herzen zu schweben. So schrieb ich ihr das damals. Ich hatte mich in die rechte erste Reihe des Parketts zu setzen, damit sie mich im Blick habe. Sie spielte wohl für mich oder wollte, das es so aussah. Ihren Riesenerfolg feierten wir mit Krimsekt vor dem dunklen Wasser des Schweriner Sees und redeten nicht über Tschaikowski."

"Und dann?" fragt der Sohn neugierig. 

"Nichts, kein und dann? Geheimnisse sind nur schön, wenn sie es bleiben. Galt noch zu meiner Zeit. Und die ist noch nicht ganz vorbei! Nach diesem Erfolg lud man Elisabeth nach Stuttgart zu einer Rundfunkaufnahme ein. Noch viermal fuhr ich in den Westen, um sie zu hören. Sie erlebte ihr, kleines, Comeback." 

"Und dann?" " Grässlich dein: und dann? Dann kam die Mauer, die wir damals nicht so nannten. Elisabeth war wohl gerade in Hamburg, und dort wohnt sie noch heute."

"Hast du sie je wieder gesehen?" 

"Ja, sie war noch einmal da. Wir trafen uns in einem Cafe in Leipzig, du warst übrigens dabei." 

"Daran kann ich mich nicht erinnern." 

"Kein Wunder, das war einundsiebzig, du warst dreijährig. Und es war ein kurzes Treffen. Elisabeth leitete eine gutgehende Konzertagentur und war es nicht gewohnt, mit Männern zu reden, deren Knabe ihr ständig durch die Beine wuselte. Sie war ja mal mein dritter Frühling. Immerhin!"

"Also hattet ihr doch ein Verhältnis?" 

"Ach woher denn! Ich fuhr nur immer hin, wenn sie dieses Konzert spielte. Am nächsten Morgen war ich immer wieder weg.. Sie wollte mich ja nachholen, aber sie hatte Pech. Mit beiden Männern!" 

"Wie?" "Der Ehemann blieb nicht wegen der blinden Mutterund auch nicht wegen der Villa über der Elbe, sondern wurde ein grosses Kulturtier in Berlin, und ich wollte auch nicht weg." 

"Warum?" 

"Wegen dem Ziel!" 

"Welchem Ziel?" "Dem Kommunismus! Ich war Schulleiter und glaubte fest an unsere grosse Arbeit zu seiner Errichtung." 

"Du hast also die DDR mehr geliebt als diese Pianistin?" 

"Nein, mein Sohn, nicht so schnell mit den Worten! Ich habe beides nicht geliebt. Wie ich aus dem Krieg kam, war ich vierunddreissig. Verstehst du? Du bist jetzt noch jünger! Heute nennt man es Chance, was sich da bot, dieser völlige Neuanfang! Wir kamen als erbärmliche Verlierer aus diesem Krieg, die täglichen Nachrichten um die Wahrheit des jämmerlich verendeten Systems sollten uns den Kopf immer tiefer gesenkt tragen lassen, was, die Schande verschärfend, nicht bei jedem der Fall war, und plötzlich gab es ein neues Ziel, eins, das nie werden konnte wie das vorhergehende: Kommunismus! Die neue Gesellschaft! Blick nach vorn! Ich ging noch sechsundvierzig in die Partei. Bekam Arbeit und Verantwortung! Es gab damals so ein Lied: Du hast ja ein Ziel vor den Augen.... Heute lacht ihr darüber, aber es hatte was. Die ersten Jahre war das Leben unerträglich. Da war so ein Ziel hilfreich, du wusstest um den Grund für die Entbehrungen. Aber von Anfang an blieb das Ziel gleichweit weg. So ein, zwei Generationen. Auch im Verlauf der Jahre veränderte sich dieser Abstand nicht. Auf jeden Fall wurde er nicht geringer. Über vierzig Jahre lang! Spätestens zu Zeiten meiner Bekanntschaft mit Frau Stolze rottete sich Lumpenpack um die Krippen, das lebte schon in der Zukunft, auf die wir hinarbeiteten. Widerliche Kleingeister richteten sich im Sozialismus ein und machten ihn zum real existierenden. Träume wie wir sie, besonders nach Stalin, hatten, waren Gift für diese Ratten und wurden zu solchem erklärt. Misstrauen wurde die Haupeigenschaft eines guten Kommunisten. Denken wurde schwierig...." 

"Und dafür liessest du eine Frau sausen, mit der dich dieses Konzert verband! Irre!" Sagt der Sohn. 

"Das ist wohl so", antwortet der Vater, "so verrückt es klingen mag, der Mauerbau machte mir damals Hoffnung. Ich glaubte, nach der Abschottung hätten wir endlich Zeit für das Wesentliche. Ich täuschte mich auch da. Die Wachsamkeit nahm immer groteskere Züge an. Zu dem wärest du kaum fünf Jahre später geboren worden, wäre ich der Pianistin damals nachgereist. Sie war wohl nicht die Richtige. Auch du solltest dir überlegen, ob du Frauen allein nach ihrem Verhältnis zu Tschaikowski auswählst." 

"Das tue ich nicht, Vater." "Ach und warum gönnst du mir nicht die Freude einer Schwiegertochter? Lange werde ich nicht mehr warten können. Peinlich genug , dass sie mich so kennenlernen muss. Hinter all deinen Computern in der Bank wird es doch auch ein paar schöne Frauen geben!" 

"Gibt es Vater, massenweise." 

"Ja also, dann bring mir eine, bevor ich hier nur noch rumröchle. Oder geht es dir wie dem Tschaikowski?" Der Sohn lacht seinem Vater ins Gesicht: 

"Und was wäre wenn?" Vor den Schlaganfällen hätte man den Blick, den der Vater dem Sohn nun schickt, "messend" genannt. "Dann würde ich den jungen Mann auch gerne kennenlernen. Soll ja heute kein Problem mehr sein, höre ich immer im Radio. Also bist du, wie sagt man heute..." 

"Schwul, sagt man, Vater." Der Alte richtet sich ungeduldig auf: "Ja bist du nun oder bist du nicht?" Der junge Mann streicht über die im Bettbügel verkrallte Hand: "Nein Vater, ich bin nicht!" Der fällt zurück ins Kissen: "Na, da bin ich aber froh!" 

"Ich weiss!", lacht sein Sohn weiter offen. "Es ist keine Gelegenheit." Der Vater schüttelt mit dem Kopf den ganzen Körper: "So ein Quatsch! Seit wieviel Jahren gibt es die Menschheit? Dafür war noch immer Gelegenheit!" Der Sohn ist ratlos. Natürlich hat der Vater recht, die Bank ist wie ein Markt, er hätte wohl die Auswahl. Und da lag das Problem. Die vielen selbstverwirklichten, hochgebildeten Frauen, die auch noch frisch vom Laufsteg zu kommen schienen, interessierten ihn schon lange nicht mehr. Natürlich hatte er Liasionen gehabt, hatte mit Interesse das Freizeitverhalten der Userinnen studiert, deren Netzwerk er verwaltete. Jetzt konnte er snowboarden, tauchen, klettern, sprach leidlich Italienisch und tanzte einen passablen Tango. Alles das hatte er in den letzten neun Jahren von, mit und wegen Schweizer Kolleginnen gelernt. Seine Herkunft aus der ehemaligen DDR schien nur ein Vorteil zu sein, hier, wo die Lockermäuler aus dem grossen Kanton oft argwöhnisch betrachtet wurden. Fasziniert hatte ihn immer wieder die Freizügigkeit, die Schweizer Frauen in Bindungen an den Tag legten, bevor sie auch nur fest wurden. Mehrfach hatte er erlebt, wie sein postkoitales Verschmelzungsgeschwätz vom sauber und von Migros bestückten Frühstückstisch gewischt wurde, was er als angenehm zu empfinden lernte, da ihm ein über die Säfte hinausgehender Austausch sowieso nicht möglich schien. Eine, mit der er nach den oft sportlichen Geschlechtsakten, im Seelengärtchen spazieren ging, fragte er nach dieser Leichtigkeit. Die ihm Ähnliche sprach vom Austoben, bevor die Tür zu falle. Hellhörig geworden, beobachtete er, und je länger er und seine Kolleginnen alterten, um so deutlicher wurde ihm, das hinter all der Freizügigkeit und aufgeregten Freizeitfüllung einzig der Big Deal of Live hervorlugte. In den interessanten, schon Zeichen tragenden Gesichtern sah er aber nicht nur Schrecken vor dem Etappensuizid im Einfamilienhaus mit eigenem Schutzraum. Er wurde, was man zurückhaltend nennt. Der langsame Satz klingt aus. 

"Stop, bitte nochmal hier, die Windel piesackt." Der Vater reisst den Sohn aus den Gedanken . "Die Frühschwester hat wieder eine Folterfalte eingebaut." 

"Das macht die nicht mit Absicht." Sagt der Sohn und schiebt den Betttisch in die Mitte des Wohnzimmers. "Das sieht man anders, wenn man hier liegt! Denk in sechzig Jahren mal an mich!", murmelt der Vater und streckt das Gesäss in die Höhe, noch ehe der Sohn ihn abdecken kann. "Vater, eine Krankenschwester, die auch nicht deine Schwiegertochter werden wird, hat mir mal erzählt, dass man diese Windeln in Schweizer Spitälern Susiwindeln nennt."

"Redest du mit Frauen über Windeln?" 

"Ja, wenn sie sich nicht für Tschaikowski interessieren, auch über Windeln." 

"Nun gut, dann schau jetzt, wo mir die Susi in die Eier piekt!" Der Sohn glättet dem Vater das feuchtwarme Folienpapier sorgsam.

ALLEGRO CON FUOCO

"Ja, so ist gut." Der Vater räkelt sich im Krankenbett. "Und nun auf zum letzten Satz! Ich höre in letzter Zeit sehr gern die Finale! Das muss mit meinem zusammenhängen!" Er schwingt den Bettbügel im Takt. "Auch wenn Tschaikowski wohl einfach nur froh gewesen sein wird, das ganze zu einem Ende zu bringen, höre ich die Freude darauf. Das kann ich gut verstehen."

"Freust du dich darauf?", fragt der Sohn ernst. "Ja natürlich! Ich habe Hunger, und Mutters Sauerbraten gehört bekanntlich in die Reihe der Weltwunder aufgenommen."

"Das meine ich nicht, Vater." 

"Ach, du meinst mein Ende. Den grossen Abgang eines Musiklehrers von der Provinzbühne , die ihm die Welt war. Nein, davor habe ich keine Angst mehr. Sieh mich doch an, und wie klein meine Welt geworden ist. Fremde Frauen waschen mich am Morgen, die Lage einer Windel kann über den Tag entscheiden, Essen gibt es nach Diätplan, püriert im Härtefall, nein, mein Sohn, der Abschied von dieser Welt fällt nicht schwer. Im Gegenteil, er dauert mir zu lang. Das Herrgöttle macht es einem am Ende madig, das Leben. Klug eingefädelt!"

"Und gleichzeitig freust du dich auf Mutters Sauerbraten!" "Ja, das tue ich! Vielleicht liegt darin das Geheimnis. Vielleicht leben wir manchmal nur wegen einem Sauerbraten weiter." Der Sohn streicht seinem Vater lächelnd über den Kopf, eine seltene Geste. Eigentlich könnte er jetzt sterben, nach dieser Weisheit. Er weiss noch nicht, dass die letzte Lektion seines Vaters für ihn Geduld heissen wird. 

"Vater, glaubst du eigentlich an Gott?" "Natürlich, wie jeder gute Kommunist! Um deinem dummen Nachfragen zuvor zu kommen: Ich hatte auch historischen Materialismus zu unterrichten und war damit als geübter Lehrer in der Lage, alles, aber auch alles zu erklären, ausser die eine Frage, die mich selbst am meisten reizte: der Sinn. Worin liegt der Sinn dieser ganzen Unternehmung?" 

"Und zu welchem Schluss kamst du?"

"Natürlich zu keinem, wie Milliarden vor und nach mir. Die Frage ist der Sinn. Die Frage ist Gott. Wie denkst du?" 

"Nicht! Ich denke nicht über diese Frage nach!"

Der Alte lacht: "Dann hast du es noch nicht bemerkt! Wem diese Musik gefällt, der ist verfolgt von dieser Frage, man muss es nur merken. Du hast noch Zeit! Nutze sie!"

Mit den letzten Takten betritt die Mutter das Zimmer. "Ach, der Herr Studienrat geruhen noch im Bett herum zu kullern, und seine Hoffnung glotzt sinnig aus dem Fenster. Komm hief deinen Vater aus dem Bett, ein derartiger Sauerbraten wird am Tisch gegessen! Was habt ihr denn die ganze Zeit getrieben?"

"Tschaikowski gehört." sagen die Männer.

Die Frage

Eine Zeit später wird der Sohn bei einer der seltenen Aufführungen des Klavierkonzertes eine flüchtige Bekannte treffen, die er aus einem der vielen Kurse kennt, als er noch dem helvetischen Zeitgeist nachstrebte. Seine privaten Verbindungen zum Musikstück als völlig unwichtig weglassend, wird er im Gespräch vornehmlich Formulierungen seines Vaters verwenden, den auch als Urheber benennen und dabei auf den Sinn und die Frage zu sprechen kommen. Die zarte, dunkle Frau wird ihm bestätigen, dass sie nur wegen dieser Frage in klassische Konzerte geht. Ihr Satz: "Und ohne einer Antwort auch nur ein Stück näher gekommen zu sein, fühlte ich mich heute Abend auf dem Wege wie noch selten vorher."

Dieser Satz nimmt ihm das Misstrauen. Sie werden Freunde. Wieder eine Zeit später wird sie ihn bitten, einmal mit in seine Heimat reisen zu dürfen. Und er wird wissen, dass diese Frau seinem Vater manche Sorge nehmen kann und eines Freitagabends reisen sie in Richtung Nordost. Tausende Pendler verstopfen sich gegenseitig die Autobahn in die Heimat, die nicht mehr die war, die sie vor Jahren verlassen hatten. Einhundert Kilometer vor dem Ziel werden die beiden die Nerven verlieren und in einem neuem Etaphotel einen Schlüssel aus dem Automaten ziehen. Den Schlüssel zu einem Doppelzimmer. In einem Autobahnhotelzimmer inmitten der Wälder, die dem Sohn vertraut sind, öffnen sich die beiden in jedem denkbarem Sinn, ohne dem Irrtum zu verfallen, dieses Öffnen für die Antwort zu halten. Das Verschränken ihrer Körper, Sinne und Geister werden die Beiden als die Frage begreifen. Und weil bekanntermassen das Herrgöttle auch hier manches klug eingefädelt hat, schieben sie immer wieder ihre Kreditkarten in den Automaten, um die Gültigkeit ihres Schlüssels zu verlängern. Am Sonntagnachmittag fahren sie erschöpft und leicht nachvibrierend in die Schweiz zurück. Dort wird die Nachricht warten, dass der Vater gestorben sei. Der Sohn lacht still vor sich hin und die zarte, dunkle Frau lacht mit.

© Götz Schwirtz

 


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