madonnas archiv

 Januar 2003



taube dichter schnee   

eine
taube steht
im schnee
mit kalten krallen

hebt
einen fuß hoch,
der tut weh
und auf den dächern
allen
wie eine haube
dichter
schnee

um
einer taube
zu gefallen
sie zu grüßen
steht 
mit kalten füßen

im schnee
ein dichter

 

 

                 

                            

         




Der Vogel 


Er lag auf dem Rücken im Schnee, nahe am Zaun, die Füße zu sich herangezogen. 
Ein Mädchen mit schwarzen Zöpfen stand davor und starrte auf ihn hinab. 
Sie drückte mit einem Stöckchen auf seinen Leib. 
Der Körper war noch nicht steif. 
Die Ratlosigkeit in den Augen des Kindes spiegelte die meine. 
Neben dem Leichnam waren Vogelbeeren in den Schnee eingesunken. 
Rostfarbene Spritzer auf weißem Grund. 

- Er ist tot- sagte ich. 
Das Mädchen nickte und stieß mit dem Stock noch mal sacht zu. 
- Der Arme. - 
- Was sollen wir machen? - 
Sie zuckte mit den Schultern ohne den Blick von dem toten Vogel zu lösen. 
- Sollen wir ihn begraben? – 
Sie schaute mich an und bewegte zustimmend ihren Kopf auf und ab. 
In ihren Augen schimmerte ein Hauch von Begeisterung. 
- Na dann - sagte ich und ging zurück ins Haus um eine Schaufel zu holen. 

Mit der Schaufel gegen den Sockel des Zauns geschoben, rollte der Körper 
auf die Schippe. 
Das Mädchen atmete laut durch. 
Beim Ausatmen stand für einen Moment eine kleine weiße Wolke vor ihrem Mund. 
Ich öffnete die Gartenpforte und ging mit meiner Last durch den Schnee 
bis hin zur Kastanie. 
Der Boden war hart gefroren, an Begraben war gar nicht zu denken. 
Ich ließ den toten Vogel vorsichtig in den Schnee gleiten. 
Das Mädchen war draußen vor dem Zaun geblieben. 
Sie stieg auf den Sockel, umklammerte den oberen Teil des Gitters 
und presste den Körper dicht an die Eisenstäbe. 
Gespannt verfolgte sie jede meiner Aktionen. 

Ich häufelte Schnee über den Leichnam und drückte die weiße 
pappige Masse mit der Schaufel zusammen. 
Vorsichtig klopfte ich von vier Seiten und formte eine  stattliche kleine Pyramide. 
- Gut so? - fragte ich als ich fertig war 
Wir sahen uns an und sie lächelte anerkennend. 
- Das war’s. - sagte ich. 
Sie schien ein Gebet oder etwas ähnlich Feierliches zu erwarten. 
Als nichts kam ließ sie den Zaun los und hüpfte davon. 

Das war vor vier Tagen. 
Heute hat es getaut; die ganze Nacht über hörte ich es tropfen. 
Er ist wieder da. 
Von der Pyramide ist kaum noch etwas übrig. 
 

© sigrid kriener



 


18 Seele (Märchen)
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