madonnas archiv

November 99 bis Mai 2012



Diese Geschichte schrieb ich in der Autorengruppe des Cycosmos, in einem Schreibprojekt. Sie gehört also mit zu meinen allerersten Erzählungen 'Lorenzo und Nano' und 'Hoffnung' sind nach den gleichen Vorgaben im Jahr 2000 entstanden. 
Bei der Überarbeitung 2008 habe ich mich an die Vorgaben nicht mehr gebunden gefühlt. 
Vorgaben waren folgende von den Projektteilnehmern in einem Online-Brainstorming zufällig ermittelten Wörter:


Gebirgswanderung / Miesmuscheln / Zwerg / 
Kater / Dachstuhl / Ameisenbau / Lotto / 
Ehescheidung / Schornsteinfeger/
Vogelvoliere / Konservendose / Papageno / 
Mozzarella / Verpuffung / Mathematik /
vertrocknet





























 



 

Lorenzo und Nano  (Version 2008)

Bis vor wenigen Jahren lebte ein versoffenes Genie namens Lorenz L. in unserer kleinen Stadt. Von Beruf war er Schornsteinfeger, übte diese Tätigkeit aber nicht mehr aus, denn eine entfernte Verwandte hatte ihm ein kleines Vermögen und ein Haus hinterlassen. Da hauste er, genügsam und allein, nur in Gesellschaft seiner Tauben, welche in einer Voliere auf dem Dachboden untergebracht waren. Die Tauben liebte er über alles und widmete ihnen einen großen Teil seiner freien Zeit. Es waren die einzigen Lebewesen mit denen er damals sprach. Manchmal pfiff er, wenn er bei ihnen war, die Arie des Papageno, und obwohl er von einfacher Herkunft war, hatte er eine Vorliebe für Opern und sein Radio spielte, wann immer er es einschaltete, klassische Musik. Seit seiner Ehescheidung war ihm keine Frau mehr über die Schwelle seines Hauses gekommen. 

Er kam zurecht und ernährte sich von all den guten Dingen, die Konservendosen zu bieten haben. Zu seinen höchsten kulinarischen Genüssen zählten Miesmuscheln in Tomatensauce, dahinein tunkte er weißes Brot. Dazu trank er Bier und anschließend noch eines, zur Feier des Tages wieder eines, und weil es so gut war, auch noch eines vor dem Zubettgehen. Oft kam noch ein Köm hinzu, wie es dieser Gegend üblich ist. Wenn er nach solchen Exzessen am folgenden Morgen mit einem Kater erwachte, trank er gleich wieder ein Bier. Er hielt sich dabei an die Regel: 'Immer mit dem beginnen, womit man am Abend aufgehört hat.' Nach und nach kam Lorenz L. auf den Hund. Er verlotterte, erschien zu spät zur Arbeit und ließ an allem fehlen, was man von einem Bürger dieser Stadt erwarten kann. Sein Arbeitgeber kündigte ihm. Von da an beschränkte sich Lorenz’ Umgang hauptsächlich auf seine Tauben. Die Menschen mied er - und sie ihn. Er schien bei alledem nicht unglücklich zu sein. Langeweile kannte er nicht, denn ungeachtet seiner Trunksucht, hatte er einen ansonsten klaren Verstand und schon von Jugend auf eine Liebe und besondere Begabung für Mathematik und die Logik von Systemen. Nie wurde er es müde, über verzwickten Problemen zu grübeln, es bereitete ihm sogar Lust. In den Augen seiner Nachbarn war er jedoch ein Nichtsnutz, ein Faulpelz. – Welcher wirklich vernünftige Mensch beschäftigt sich schon mit der Frage, weshalb Achilles die Schildkröte nie einholen wird? 

Eines Abends, nachdem er schon ein paar Biere getrunken hatte, sah er plötzlich, dass er nicht allein war. Ihm gegenüber am Tisch saß ein Zwerg. Einen Augenblick dachte er, der Alkohol spiele ihm nun wahrscheinlich doch einen Streich. Er verhielt sich still, schloss die Augen für ein paar Sekunden und schaute wieder hin. Kein Zweifel, da hockte ein Zwerg, natürlich ohne Zipfelmütze und ohne weißen Bart aber von sehr kleinem Wuchs. Der Kopf schien viel zu groß und schwer für seinen zarten Leib. Der Zwerg sagte nichts. Was er denn da wolle, fragte Lorenz, nachdem sie einander eine Weile schweigend angesehen hatten. „Ich bin Dein Schutzengel“ soll ihm der Kleine darauf geantwortet haben. „Na so was!“ sagte Lorenz, „und was willst du von mir?“ – „Ich soll dich beschützen.“ Befangen knetete der Zwerg seine Finger unter der Tischplatte. "Außerdem habe ich Hunger.“ – „Mal sehen, was noch da ist“, sagte Lorenz und ging in die Küche. Er kam mit einem Kanten trockenen Weißbrot und einem Teller Mozzarella zurück. „Nicht mehr ganz frisch, das Brot“, sagte er verlegen, „aber der Käse hier ist noch genießbar.“ Der Zwerg dankte und aß das karge Mahl, so wie es ihm serviert worden war. Er trank auch das Bier, welches Lorenz ihm hingestellt hatte. 
„Was liest du denn da?“ erkundigte sich der kleine Mann. Lorenz schob ihm das Buch über den Tisch. „’Gödel, Escher, Bach’“ murmelte der Zwerg und blätterte in dem Buch herum. „Sapperlot!“ entfuhr es ihm, als er eine Abbildung entdeckte, bei der aus einer Zeichnung Echsen herauskrochen über den Tisch liefen und auf der anderen Seite des Blattes wieder in die Zeichnung eintauchten. „Und, schau mal hier, den Möbiusstreifen II’. Da laufen Ameisen herum in einer unendlichen Schleife.“. - „Ja, Wahnsinn!“ bestätigte Lorenz. „Und es gibt auch noch ein Foto, wo Ameisen eine Brücke bauen mit Hilfe ihrer eigenen Körper.“ - “ Ameisen, sind das Größte“, sagte der Zwerg und kicherte, „ Ich bin neulich, auf einer Gebirgswanderung an einem riesigen Ameisenbau vorbei gekommen. Das war ein Gewimmel! Aber organisiert!“ - So unterhielten sich die beiden bis in die Nacht. Lorenz bereitete dem Kleinen ein Bett. An diesem Abend hatte Lorenz nichts mehr getrunken und dennoch hatte er lange nicht mehr so viel Vergnügen empfunden. Am nächsten Morgen gingen sie zusammen frisches Brot kaufen und setzten ihre Unterhaltung vom Vorabend fort. Als es dunkel wurde, machte der Zwerg keine Anstalten zu gehen, und Lorenz war’s recht. Sie versorgten gemeinsam die Tauben, hatten ihre Freude an ihnen und verstrickten sich in ihre Gespräche. Der Zwerg wohnte von da an bei Lorenz, und nach einiger Zeit kam es Lorenz vor, als würde er ihn schon seit Ewigkeiten kennen.

Aber, wie immer und überall, fingen die Leute an zu tuscheln über das seltsame Gespann, und bald fanden die beiden einen anonymen Brief in ihrem Briefkasten. ‚Hier ist kein Platz für warme Brüder’ stand darin. Sie sahen einander an, zuckten mit den Schultern und warfen den Brief in den Papierkorb. Die zunehmend feindseligen Blicke ignorierten sie. Sie lebten zufrieden und gönnten sich die eine oder andere Zerstreuung, gingen ins Kino und zur Kirmes; und sie spielten im Lotto, jede Woche. Der Zwerg überprüfte mit peinlicher Genauigkeit die Ergebnisse der Gewinnausschüttung und führte Buch über ihre kleinen Gewinne. Lorenz neckte ihn deswegen und schalt ihn einen Pfennigfuchser. Doch der Zwerg ließ sich nicht beirren, jeder Gewinn wurde aufgeschrieben und in zwei Teile geteilt. – Das Schicksal wollte es, dass sie eines Tages 'Sechs Richtige' hatten. Da war die Freude groß. Sie gingen ins Wirtshaus, gaben ein paar Runden aus und feierten das Ereignis. 
Von nun an war der Neid ihr Begleiter. Die Zahl der Briefe ohne Absenderadresse nahm zu und auch die Zahl der Bittsteller. Die beiden waren gutmütig und halfen, wo sie konnten, doch wenn einer ihnen dreist kam, schickten sie ihn fort. 
Und so gesellte sich zum Neid der Hass. Als sie von einem Spaziergang heimkamen, sahen sie Flammen aus dem Schuppen an ihrem Hause schlagen. Sie rannten um zu löschen. Es gelang ihnen zu verhindern, dass das Feuer auf das Haus übergriff. Die spätere feuerpolizeiliche Untersuchung erkannte als Brandursache eine Verpuffung von Chemikalien, die in dem Schuppen untergebracht waren. Aber die Freunde wussten, dass sie keine Chemikalien dort aufbewahrten, und da sie nicht ganz dumm waren und nun doch merkten, dass die Sache ernster war als sie geglaubt hatten, packten sie ihre sieben Sachen, öffneten die Voliere, entließen die Tauben in die Freiheit und gingen in die weite Welt. 

Woher ich das alles weiß? - Nun, vor ein paar Jahren reiste einer meiner Freunde nach Italien. Dort traf er in der Nähe von Siena, auf einer Piazza, zufällig ein paar alte Bekannte. Die haben es ihm erzählt, und dass sie in Italien von dem Lottogewinn gut leben könnten. Und weil sie jetzt Italiener waren, nannten sie sich Lorenzo und Nano. 
Als sie erfuhren, dass die Tauben wieder auf dem Dachboden des damals unbewohnten Hauses Quartier genommen hatten, drückten sie meinem Freund eine Börse mit einer stattlichen Summe Geldes in die Hand und baten ihn, einem zuverlässigen armen Teufel die Versorgung der Tauben zu übertragen, der sollte dafür dort mietfrei wohnen. Und so geschah es. - Ich bezog das Haus einen Monat nach dem mein Freund aus Italien zurückgekehrt war. Die Tauben waren anfangs scheu, aber sie haben sich an mich gewöhnt und ich mich an sie. Und manchmal pfeife ich ihnen die Arie des Papageno vor, dann drehen sie ihre Hälse ein wenig, und schauen mich mit schräg gelegten Köpfen aus goldenen Augen an.


überarbeitet 25.12.2008 

© sigrid kriener





 


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