Out of control
Er kam nicht damit zurecht, dass das Ausblenden
seiner Erinnerungen nicht mehr bewusst geschah.
Die Kontrolle war ihm phasenweise entglitten. Nicht, dass er an
seinen Erinnerungen hing, das wohl weniger. Aber ab und an begann
es, unangenehm zu werden.
Er hatte geglaubte, darauf vorbereitet zu sein. Sein Großvater und
sein Vater hatten ihm dieses Schicksal vorgelebt. Allerdings war
er wohl der erste in der Reihe, der das Schließen des Vorhangs
bewusst wahrnahm. Er war vorbereitet. Die ersten Anzeichen waren
für ihn nur eine Bestätigung.
Before you'd have noticed how I feel, Love real not fade away,
We’ll love real not fade away 1
Die kleinen alltäglichen Dinge verschwanden im Dunst; hast du
heute Morgen schon die Zähne geputzt?
Wieso ist die Kaffeekanne leer, hast du sie schon leer getrunken?
Wer hatte gerade angerufen?
Für wann hatte er den Friseurtermin ausgemacht?
Hatte er überhaupt einen Termin ausgemacht?
Kleinigkeiten. Er hatte rechtzeitig mit der Zettelwirtschaft
begonnen, mit dem Block auf dem Schreibtisch, in der Küche, in der
Diele, auf dem Wohnzimmertisch. Das wurde von einigen als Marotte
angesehen, die Liste der Tätigkeiten im Bad, mit Datum und den ‚erledigt‘-Häckchen.
Das ständige Laufen zu irgendeinem Schreibblock in der Wohnung,
das kleine Klemmbrett im Auto. Der Kalender im Schlafzimmer.
Den hatte er heute früh verstört wahrgenommen. Er hatte sich vor
zwei Jahren, als er begonnen hatte sich vorzubereiten, für den
heutigen Tag notiert: Auto verkaufen, Führerschein abgeben,
Telefonliste Taxiunternehmen anlegen. Eigentlich schon etwas früh,
dachte er, aber die Ängste seines Vaters hatten sich bei ihm
eingeprägt. Es kam etwas überraschend, die Familie war halt nicht
darauf vorbereitet, man schien es als altersgemäße Vergesslichkeit
hinzunehmen. Aber als sein Vater eines Tages erst gegen
Mitternacht aus der Stadt nach Hause gekommen war, äußerlich
verwirrt, ängstlich, zu Fuß, ohne Auto, mit dem er in die Stadt
gefahren war, da fielen sie alle in ein tiefes Loch. Er wusste
nicht mehr, wo er das Auto abgestellt hatte. Er war mehrere
Stunden in der Stadt herumgeirrt, hatte das Auto nicht gefunden,
dachte erstaunlicherweise nicht an einen möglichen Diebstahl,
wusste, dass er vergessen hatte, wo er das Auto abgestellt hatte.
Zwei Tage war er nicht ansprechbar. Es hatte seinen Vater
überrascht. Und der Tag war der Beginn seines Leidens. Acht Jahre
Verfall und Entfernung. Das Ende als Segen. Für ihn, für uns. Er
hatte sich allmählich von sich und uns entfernt.
Er selbst wollte den Anfang des Prozesses bewusst erleben. Er
hielt ihn für unausweichlich, also nahm er es als sein Schicksal.
Er wusste, dass an einem Punkt alles nutzlos werden würde, alles
auch für ihn verschwinden würde, aber bis dahin wollte er dabei
sein.
I wonna see it painted black, Black as night, black as coal, I
wanna see the sun blotted out from the sky, I wanna see it painted,
painted, painted, painted black... 2
Heute ist es dann geschehen. Er hatte sich über den Kalender im
Schlafzimmer gewundert, wusste nicht, welcher Wochentag war und
fand weder seine Brille noch seine Uhr sofort. Die Brille lag dann
auf dem Küchentisch und die Uhr im Bad, eigentlich nicht besonders
beunruhigend, aber auch der Schreibblock in der Küche irritierte
ihn kurz.
Nach dem Frühstück hatte er sich soweit wieder unter Kontrolle,
dass er all das als Kleinigkeiten abtat. Er wollte mit dem Wagen
zu seinem Händler fahren und ihm den Wagen zum Verkauf überlassen,
dann mit dem Taxi zum Straßenverkehrsamt und den Führerschein
abgeben, abends die Telefonliste anlegen. Alles genau so, wie auf
dem Kalender vermerkt. Er hatte alles noch einmal auf einen
kleinen Zettel geschrieben, den er in seine Brieftasche steckte.
Aber als er auf der Straße nach seinem Auto suchte, das er selbst
gestern in die Werkstatt gebracht hatte, und das ihm am Nachmittag
gebracht werden sollte, begann er zu zittern.
Er ging zurück ins Haus, setzte sich an den Küchentisch und konnte
sich nach einer Stunde nicht darüber freuen, als der
Werkstattmeister anrief um ihm mitzuteilen, dass er ihm seinen
Wagen gegen fünf Uhr bringen würde. Er bekam es noch mit.
Aber ihm wurde klar, dass er sich ablöste.
Wie es begann abzublättern.
Wie alte Lackschichten auf einer Häuserwand in heißem Sonnenlicht.
There’s no time to lose, I heard her say, Catch your dreams
before they slip away, Dying all the times, Lose your dreams, And
you will lose your mind. Ain’t life unkind? 3
Am Nachmittag klingelte es an der Tür. Der Werkstattmeister
brachte seinen Wagen. Auch das überraschte ihn. Das war’s dann
wohl, sagte er sich. Er ging in die Küche, stellte die
Espressomaschine an, füllte den Kaffee nach, ließ ihn in die Tasse
laufen, setzte sich an den Tisch, lehnte sich zurück und trank
genüsslich Schluck für Schluck.
So schnell geht das also.
Er stellte dann das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine,
stellte sie an, räumte die Bücher vom Wohnzimmertisch ins Regal,
sah auf dem Wandkalender nach dem Datum.
I was standing by the brigdes, where the dark river flows I was
talking to a stranger, about times long ago,I was young, I was
foolish, I was angry,I was vain,I was charming,I was lucky,Tell me
how have I changed 4
Er schloss die Haustür ab, lächelte darüber, stieg in den Wagen,
fuhr auf der Bundestraße bis zum Kreisverkehr, überlegte kurz, bog
dann ab in Richtung Autobahn. Es war gegen sechs Uhr, es wurde
schon langsam dunkel, die Straße glänzte stumpf im kalten
Nieselregen. Die ersten braunen Blätter fielen von den Bäumen.
Welch eine Symbolik, schmunzelte er.
Er schaltete das Radio ein, wählte eine CD und genoß den satten
Klang seiner späten Jugend, der ihn bis hierher begleitet hatte.
Er schaltete schnell hoch, freute sich über die Beschleunigung,
genoss die Musik und sah nach wenigen Minuten die wuchtigen
Brückenpfeiler vor sich. Er war erleichtert, dass er die
Entscheidung doch noch in der Hand hielt.
Well, the blue light was my baby, and the red light was my
mind. All my love’s in vain. All, all my love’s in vain 5
(1) Not fade away, Rolling Stones, 1964, orig.
Buddy Holly 1957
(2) Painted black, Rolling Stones, 1966
(3) Ruby Tuesday, Rolling Stones, 1966/67
(4) Out of control, Rolling Stones, 1998
(5) Love in vain, Rolling Stones, 1969, orig. Robert Johnson 1937
© Wilhelm Homann
|