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Begegnungen, der besonderen Art


Wilhelm Homann - Willi

Out of Control
Dies ist der  erste Text, den ich von Willi gehört habe, 2001 bei der Lesung in Groß Zimmern. Er hat mich damals sehr beeindruckt und wenn ich an seine Texte denke, kommt er mir immer als erster in Erinnerung.


Damals als Indianer

Das Krippenspiel



Erstellt wurde diese Seite am 8. Februar 2016

 

 

 

 

 



 

Out of control


Er kam nicht damit zurecht, dass das Ausblenden seiner Erinnerungen nicht mehr bewusst geschah.

Die Kontrolle war ihm phasenweise entglitten. Nicht, dass er an seinen Erinnerungen hing, das wohl weniger. Aber ab und an begann es, unangenehm zu werden.

Er hatte geglaubte, darauf vorbereitet zu sein. Sein Großvater und sein Vater hatten ihm dieses Schicksal vorgelebt. Allerdings war er wohl der erste in der Reihe, der das Schließen des Vorhangs bewusst wahrnahm. Er war vorbereitet. Die ersten Anzeichen waren für ihn nur eine Bestätigung.

Before you'd have noticed how I feel, Love real not fade away, We’ll love real not fade away 1

Die kleinen alltäglichen Dinge verschwanden im Dunst; hast du heute Morgen schon die Zähne geputzt?

Wieso ist die Kaffeekanne leer, hast du sie schon leer getrunken?

Wer hatte gerade angerufen?

Für wann hatte er den Friseurtermin ausgemacht?

Hatte er überhaupt einen Termin ausgemacht?

Kleinigkeiten. Er hatte rechtzeitig mit der Zettelwirtschaft begonnen, mit dem Block auf dem Schreibtisch, in der Küche, in der Diele, auf dem Wohnzimmertisch. Das wurde von einigen als Marotte angesehen, die Liste der Tätigkeiten im Bad, mit Datum und den ‚erledigt‘-Häckchen.
Das ständige Laufen zu irgendeinem Schreibblock in der Wohnung, das kleine Klemmbrett im Auto. Der Kalender im Schlafzimmer.

Den hatte er heute früh verstört wahrgenommen. Er hatte sich vor zwei Jahren, als er begonnen hatte sich vorzubereiten, für den heutigen Tag notiert: Auto verkaufen, Führerschein abgeben, Telefonliste Taxiunternehmen anlegen. Eigentlich schon etwas früh, dachte er, aber die Ängste seines Vaters hatten sich bei ihm eingeprägt. Es kam etwas überraschend, die Familie war halt nicht darauf vorbereitet, man schien es als altersgemäße Vergesslichkeit hinzunehmen. Aber als sein Vater eines Tages erst gegen Mitternacht aus der Stadt nach Hause gekommen war, äußerlich verwirrt, ängstlich, zu Fuß, ohne Auto, mit dem er in die Stadt gefahren war, da fielen sie alle in ein tiefes Loch. Er wusste nicht mehr, wo er das Auto abgestellt hatte. Er war mehrere Stunden in der Stadt herumgeirrt, hatte das Auto nicht gefunden, dachte erstaunlicherweise nicht an einen möglichen Diebstahl, wusste, dass er vergessen hatte, wo er das Auto abgestellt hatte.

Zwei Tage war er nicht ansprechbar. Es hatte seinen Vater überrascht. Und der Tag war der Beginn seines Leidens. Acht Jahre Verfall und Entfernung. Das Ende als Segen. Für ihn, für uns. Er hatte sich allmählich von sich und uns entfernt.

Er selbst wollte den Anfang des Prozesses bewusst erleben. Er hielt ihn für unausweichlich, also nahm er es als sein Schicksal. Er wusste, dass an einem Punkt alles nutzlos werden würde, alles auch für ihn verschwinden würde, aber bis dahin wollte er dabei sein.

I wonna see it painted black, Black as night, black as coal, I wanna see the sun blotted out from the sky, I wanna see it painted, painted, painted, painted black... 2

Heute ist es dann geschehen. Er hatte sich über den Kalender im Schlafzimmer gewundert, wusste nicht, welcher Wochentag war und fand weder seine Brille noch seine Uhr sofort. Die Brille lag dann auf dem Küchentisch und die Uhr im Bad, eigentlich nicht besonders beunruhigend, aber auch der Schreibblock in der Küche irritierte ihn kurz.

Nach dem Frühstück hatte er sich soweit wieder unter Kontrolle, dass er all das als Kleinigkeiten abtat. Er wollte mit dem Wagen zu seinem Händler fahren und ihm den Wagen zum Verkauf überlassen, dann mit dem Taxi zum Straßenverkehrsamt und den Führerschein abgeben, abends die Telefonliste anlegen. Alles genau so, wie auf dem Kalender vermerkt. Er hatte alles noch einmal auf einen kleinen Zettel geschrieben, den er in seine Brieftasche steckte. Aber als er auf der Straße nach seinem Auto suchte, das er selbst gestern in die Werkstatt gebracht hatte, und das ihm am Nachmittag gebracht werden sollte, begann er zu zittern.

Er ging zurück ins Haus, setzte sich an den Küchentisch und konnte sich nach einer Stunde nicht darüber freuen, als der Werkstattmeister anrief um ihm mitzuteilen, dass er ihm seinen Wagen gegen fünf Uhr bringen würde. Er bekam es noch mit.

Aber ihm wurde klar, dass er sich ablöste.

Wie es begann abzublättern.

Wie alte Lackschichten auf einer Häuserwand in heißem Sonnenlicht.

There’s no time to lose, I heard her say, Catch your dreams before they slip away, Dying all the times, Lose your dreams, And you will lose your mind. Ain’t life unkind? 3

Am Nachmittag klingelte es an der Tür. Der Werkstattmeister brachte seinen Wagen. Auch das überraschte ihn. Das war’s dann wohl, sagte er sich. Er ging in die Küche, stellte die Espressomaschine an, füllte den Kaffee nach, ließ ihn in die Tasse laufen, setzte sich an den Tisch, lehnte sich zurück und trank genüsslich Schluck für Schluck.

So schnell geht das also.

Er stellte dann das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, stellte sie an, räumte die Bücher vom Wohnzimmertisch ins Regal, sah auf dem Wandkalender nach dem Datum.

I was standing by the brigdes, where the dark river flows I was talking to a stranger, about times long ago,I was young, I was foolish, I was angry,I was vain,I was charming,I was lucky,Tell me how have I changed 4

Er schloss die Haustür ab, lächelte darüber, stieg in den Wagen, fuhr auf der Bundestraße bis zum Kreisverkehr, überlegte kurz, bog dann ab in Richtung Autobahn. Es war gegen sechs Uhr, es wurde schon langsam dunkel, die Straße glänzte stumpf im kalten Nieselregen. Die ersten braunen Blätter fielen von den Bäumen.

Welch eine Symbolik, schmunzelte er.

Er schaltete das Radio ein, wählte eine CD und genoß den satten Klang seiner späten Jugend, der ihn bis hierher begleitet hatte. Er schaltete schnell hoch, freute sich über die Beschleunigung, genoss die Musik und sah nach wenigen Minuten die wuchtigen Brückenpfeiler vor sich. Er war erleichtert, dass er die Entscheidung doch noch in der Hand hielt.

Well, the blue light was my baby, and the red light was my mind. All my love’s in vain. All, all my love’s in vain 5


(1) Not fade away, Rolling Stones, 1964, orig. Buddy Holly 1957
(2) Painted black, Rolling Stones, 1966
(3) Ruby Tuesday, Rolling Stones, 1966/67
(4) Out of control, Rolling Stones, 1998
(5) Love in vain, Rolling Stones, 1969, orig. Robert Johnson 1937

 

 


© Wilhelm Homann
 



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