Judith Simon-Graf −
Graefinjutsch
Rettling
Amen!
Zwei Geschichten,
habe ich mir von Judith für meine
Gasttexte gewünscht: "Rettling" und "Amen".
Ich hatte ihre Entstehung sozusagen vor meinen Augen verfolgen können
im ehemaligen "Gestrandeten Forum"
von Max Dernet alias Doderer.
Ich nenne sie: "Max-Geschichten". Davon gibt es inzwischen eine
ganze Reihe.
"Rettling" war nicht die erste, aber diejenige, die mich davon
überzeugte, dass da Potenzial für "mehr" drin steckt. Mit "Rettling" beginnt Max Existenz und er wird Sandra
fürderhin begleiten zur Seite stehen, als was auch immer.
Es war spannend, mitzuerleben,
wie sich "Max" - angeregt von der Interaktion im Forum - in der
Phantasie der Protagonistin entwickelte und als literarische Gestalt etablierte.
Ich wünschte, dass Judith die Sache mit Max noch weiter triebe, weiter
schriebe. Und tatsächlich, sie hat wieder angefangen zu schreiben, nach
längerer Pause. Und es wird gut.
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Rettling
Als die Sache mit Max begann, war Sandra noch ein ziemlich junges
Mädchen. Beinahe noch präpubertär, würde sie rückblickend meinen, doch
immerhin äußerlich so weit entwickelt, dass ihr so mancher Blick
plötzlich unangenehm auffiel. Besonders der älterer Herren, leider
auch der ehemaliger Sandkastenfreunde. Dieser Blick hatte neuerdings
etwas an sich, ja, beinahe etwas Gieriges, fand Sandra und sie mochte
ihn gar nicht. Darum hielt sie sich, zumindest bis zu ihrer ersten
Begegnung mit Max, vorwiegend an die Kinder aus ihrer Klasse, die
mindestens einen Kopf kleiner waren. Das war auch nicht weiter
schwierig, denn Sandra war recht groß für ihr Alter. Also, richtiger
gesagt, alles war recht groß an Sandra und das war ein Dilemma, über
das sie ungern, aber oft nachsann.
In jenem Sommer, als Sandra gerade ihren zwölften Geburtstag hinter
sich gelassen hatte, ging sie gerne und viel Schwimmen. Am Liebsten
allein und dies vor Allem deshalb, weil sie durch ihre Größe zwischen
all den Kindern nicht unangenehm auffallen wollte, schon gar nicht in
einem Badeanzug. Schwimmen gehen konnte sie aus diesem speziellen
Grunde sehr gut am hiesigen Baggersee, dort war nie allzu viel los. Er
lag etwas außerhalb und war mit dem Fahrrad gut zu erreichen. Sandra
schwang sich also oft genug nach der Schule auf ihr Fahrrad und
verschwand zur Freude ihrer gestressten, alleinerziehenden Mutter zum
Baden.
Der Baggersee hatte am Ufer ein dichtes Buschwerk, welches nur hin und
wieder von schmalen Zugängen unterbrochen wurde. Es bildete einen
grünen Kranz um den See und in seiner Mitte ragten eiserne
Gerätschaften aus dem Wasser. Sandras Stammplatz war eine etwas
breitere und abgelegene Einstiegstelle aus hellem Sand. Von dort aus
schwamm sie täglich mindestens einmal zu einem der stillgelegten
Förderbänder, kletterte hinauf und legte sich zum Trocknen in die
Sonne, sofern diese schien. Schien sie nicht, lag Sandra trotzdem dort
und sann über ihr bisheriges Leben, ihre unbegreiflichen Körpermaße
und über unendlich vieles mehr nach. So früh schon begann also dieses
eigentümliche Sinnieren und hielt sich noch bis heute als eine
typische Wesensart Sandras.
Es war an jenem bedeutungsvollen Julinachmittag ziemlich schwül.
Sandra lag vollkommen trocken in der Mitte des Baggersees und war
übers Sinnieren hinweg eingeschlafen. Frösche quakten, Grillen
zirpten, es war wunderbar friedlich und Sandra sann ausnahmsweise
einmal nicht nach. Und weil sie ja schlief und auch ziemlich weit weg
war, konnte sie die vielen Menschen am Ufer nicht kommen hören. Die
Leute entstiegen einer Handvoll Autos, diskutierten lebhaft,
schleppten Kisten hin und her und schienen Wichtiges zu organisieren.
Sandra schlummerte derweil auf dem alten Förderband und war vom Ufer
aus nur schwer auszumachen.
Beim ersten Schuss zuckte sie heftig zusammen. Unmittelbar nach dem
Schuss folgte ein Knall und gleich darauf ein fernes Platsch. Sandra
fuhr benommen hoch und hielt sich die Hand über die Augen. Die Sonne
stand sehr schräg. Sandra wurde geblendet, konnte nichts erkennen und
bald schon gab es einen zweiten Schuss, gefolgt von einem weiteren
Knall, nur das Platsch fehlte und Sandra sprang panisch auf. Viel zu
schnell kam der dritte Schuss, bei dem wiederum der Knall fehlte,
Sandra duckte sich, verlor das Gleichgewicht und landete ziemlich
unelegant, dafür aber mit einem –verzögerten- Platsch im Wasser. Vor
Schreck versteckte sie sich hinter einem Eisenträger und verharrte
dort regungslos und mit rasendem Herzen. Als sich das Pochen endlich
beruhigt hatte, hörte sie auch das Stimmengewirr vom Ufer. Und
plötzlich waren da auch Schwimmgeräusche, die -allerdings von der
gegenüberliegenden Seite- schnell näher kamen.
Max schwamm zügig heran. Seine Schwimmbewegungen wirkten rhythmisch,
beinahe bedenklich mechanisch, auf jeden Fall aber sehr routiniert und
ehe Sandra sich versah, war er bei ihr angekommen, legte einen seiner
erstaunlich muskulösen Arme um ihre Brust, drehte sie behände im
Wasser herum und zog sie mit dem Gesicht nach oben und raschen Zügen
gen Ufer. Sandra war dermaßen überrascht, dass sie ganz vergaß zu
schreien oder gar, sich zu fürchten und erst an ihrer vertrauten
Ufernische angekommen und von Max in den Sand gezogen, brachte sie ein
zartes Kieksen hervor. Max ignorierte das Geräusch. Er schien an ihrem
Körper irgendetwas zu suchen, tat dies hochkonzentriert, fand jenes
aber offensichtlich nicht, hielt schließlich irgendwann inne und
schaute Sandra eine ganze Weile lang atem- und tatenlos ins Gesicht.
Dann begann er zu lächeln und sie lächelte zaghaft zurück. Endlich
ließ er sie los.
Sandra brauchte etwas Zeit, um zu verstehen, was eigentlich passiert
war. Max erklärte ihr, er selber käme schon lange hierher zum See und
hätte sie schon öfter beobachtet. Neuerdings aber kämen da wohl auch
noch einige andere Leute mit einem merkwürdigen Hobby her und
letzteres war wohl Grund für sein ungestümes und hektisches Auftreten
gewesen. Es sei nämlich so, dass das Hobby der Neulinge, welches man
gemeinhin Tontaubenschießen nannte, gar nicht so ungefährlich sei, wie
manche dächten. Denn Menschen, besonders halbwüchsige schlafende
Mädchen auf stillgelegten Förderbändern könnten von den Kugeln, welche
eigentlich gar keine richtigen waren, oder von herab fallenden
Tontaubenteilchen, die richtigen Tauben selbstverständlich nicht
ähnelten, getroffen und mitunter tödlich verletzt werden. Weshalb auch
das Betreten des Baggerseegebietes seit Neustem verboten war. Er, Max,
so stellte er sich nun namentlich vor, habe wohl gedacht, Sandra wäre
getroffen worden und da er Rettungsschwimmer wäre, hätte er sofort
reagieren müssen.
Während sich Max in einen ausführlichen Erklärungsmonolog vertiefte,
konnte ihn Sandra in aller Ruhe vom Boden aus betrachten. Die Sonne
war gerade hinter einer Wolke verschwunden und Sandra konnte nun,
obwohl immer noch auf dem Rücken liegend, wieder ordnungsgemäß und
genug sehen. Max war ein ausgesprochen kräftiger und knubbeliger Mann.
Auf seinem Kopf fehlte jedes Haar, so auch in seinem Gesicht und an
seinem gesamten Körper. Seine Stimme war dunkel und angenehm, ebenso
seine Augen. Max’ Oberarme waren offensichtlich um einiges größer und
kräftiger, als die ihres Vaters, den Sandra nur sporadisch sah, obwohl
jener etwa im selben Alter zu sein schien. Oder, überlegte sie weiter,
Max kam ihr in etwa so alt wie ihr Sportlehrer Herr Hansen vor, den
sie sehr mochte und der sich ihr gegenüber immer sehr väterlich
verhielt. Ob dieser Schätzung war sie sich aber nicht sonderlich
sicher, denn Max strahlte eine ausgeprägte und sehr befremdliche
Alterslosigkeit aus.
Sandra kam an diesem Tage später als sonst nach Hause. Ihre Mutter
hatte Besuch von einer Nachbarin. Die beiden Frauen tranken Likör,
plauderten angeregt und so konnte Sandra nach einem kurzen Hallo in
ihr Zimmer verschwinden. Dort machte sie die Musik laut, zündete
Kerzen an, schmiss sich aufs Bett und sann –wie immer- gründlich nach.
Max und sie hatten lange geredet. Über alles Mögliche und eigentlich
über alles. Max war sehr nett gewesen und Sandra ungewohnt offen und
je mehr sie geredet hatte, desto stiller war er geworden. Am Ende
hatte er sich nur schweigend vom Sand erhoben, ihr zugelächelt und war
einfach fortgeschwommen. Da war die Sonne schon tiefrot geworden.
Die Geschichte mit Max hatte also mit einem Rettungsversuch begonnen.
Es sollte auch nicht der einzige Rettungsversuch Sandras bleiben, doch
darauf werde ich bei anderer Gelegenheit zurückkommen. Sandra war sein
Rettling geworden, so nannte Max sie an diesem Tag zum ersten Mal.
Zärtlich lächelnd. Dieser Titel war sehr wichtig für Sandra, denn
vielleicht war ihr deshalb und zukünftig für immer gar nichts peinlich
vor Max, niemals irgendetwas, nichts was tief in ihr vorging und nicht
einmal sie selbst im Badeanzug. Nicht einmal ihre Größe war ihr vor
ihm peinlich, damals, obwohl sich diese ja später verwuchs, aber das
konnte Sandra ja noch nicht wissen. Max war einfach nur da, das fand
Sandra gut so und ja, er war ab jenem Tage immer da. Für sie und
sowieso.
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