|
Abschied von Kalazno
von Karlheinz Lörner
Ich fahre ein letztes Mal durchs Dorf und fühle nach den durchtrennten
Fäden. Es war immer mein Ehrgeiz, alles, was ich einmal begonnen
hatte, auch zu einem gelungenen Ende zu bringen. In letzter Zeit
gelingt mir das immer weniger.
Hier konnte ich mein Scheitern im zerrissenen Gewebe fühlen.
Ich beschreibe der Käuferin eine Vorstellung von einem Haus, weil ich
es in diesen sieben Jahren nicht vollenden konnte. Ich spüre den
Verlust in den Fingern, wenn ich über die Pfosten fahre. Ich schaue
mir den Wuchs der Bäume an und denke sie groß und Früchte tragend. Ich
erträume mir den Garten. Ich begreife den Lehm der Wände.
Alles entgleitet mir aus der Realität zur Geschichte, die andere
weiter erzählen werden.
Ich schließe mein Arkadien wie ein zu Ende gelesenes Buch.
© Karlheinz Lörner
Mondkälbchen
von Karlheinz Lörner
Dass ich auf dem Mond lebe, weiß jedes Kind. Sie sagen zu mir, Omar,
du lebst auf dem Mond oder sogar hinter dem Mond. So schreibt man doch
keine Gedichte mehr. Aber das macht mir nichts, ich lebe gerne auf dem
Mond. Ich will gar nicht die vielen Vorteile aufzählen, die man hier
vom erdlichen Standpunkt aus hat. Eins aber ist schon wichtig für
mich, ich sehe die Erde nicht mehr, wenn ich auf die Rückseite des
Mondes gehe, und besser noch, die Erde sieht mich nicht mehr, niemand
auf der Erde.
Dort, hinter dem Mond begegne ich dem Mondkälbchen. Das Mondkälbchen
ist wie alle Kälbchen der Welt das Kind einer Kuh. Nur der Vater ist
etwas ungewöhnlich. Er ist ein Sternbild, in das sich die Kuh in einer
klaren Juninacht verliebt hatte. Das ist auch der Grund, warum das
Mondkälbchen einmalig ist. Ich bin mir also sicher, dass ich immer dem
gleichen Mondkälbchen begegne, wenn ich über die Rückseite des Mondes
spaziere.
Heute ist das Mondkälbchen sehr nachdenklich. Es sitzt auf einem
Mondstein und sieht dem Sonnenuntergang zu. "Sag mal Omar, du bist
doch manchmal auf der Erde, um deinen Wein zu holen, sind die
Sonnenuntergänge auf der Erde auch so schön wie hier?" "Sie sind
anders." "Wie anders." "Sie haben mehr Atmosphäre, deshalb sind sie
auch nicht so klar." "Ich liebe Klarheit." "Ich auch."
Das Mondkälbchen blickt mich mit großen, kugelrunden braunen Augen an.
Auch die Kälbchen auf der Erde blicken so. Immer. Das ist auch der
Grund, warum ich mich immer so schuldig fühle und mich abwende und
weggehe.
Heute war ich auf der Erde in dringenden Angelegenheiten. Verschiedene
Sachen gibt es nur auf der Erde. Dazu gehört natürlich Wein und leider
auch Liebe. Auf dem Mond kann es keine Liebe geben, weil dort alle
Wesen einzeln sind. Es gibt den Mann im Mond, das Mondgesicht, die
Mondsichel, das Mondpferd. Alle Wesen auf dem Mond mögen einander.
Aber Liebe, Liebe gibt es nur auf der Erde - auch den Hass. Dass das
möglich wurde, hat die Erde zwei Geschlechter erfunden. Manchmal suche
ich dort nach der Liebe. Doch nie kann ich sie mitnehmen auf die
Rückseite des Mondes. Auch die Zeichen für Liebe kann ich nicht
mitbringen, denn die Gegenstände zerfallen auf dem Mond. Der Mond
lässt keine Gegenstände zu.
Das Mondkälbchen hat mich erwartet. Es steht an der Grenze der
Rückseite und blickt über den Rand.
"Warst du wieder auf der Suche nach Liebe, Omar?" "Ja, aber ich habe
Wein gefunden." "Was ist Liebe?"
Das habe ich erwartet. Das Mondkälbchen geht mir mit seinen Fragen auf
die Nerven, besonders, wenn ich etwas nicht erklären kann. Aber ich
weiß schon, was ich machen muss, um darum herum zu kommen. Ich erzähle
ihm die Geschichte vom Wein.
"Pass auf, ich erzähl dir die Geschichte vom Wein. Dann verstehst du
die Liebe. - Als die Erde die Liebe erfunden hat, ist sie davon
ausgegangen, dass immer ein Wesen ein anderes findet. Das mag wohl am
Anfang ganz gut gelungen sein. Aber je mehr Wesen die Erde
bevölkerten, desto weniger fanden sie einander. Und so kam der Hass in
die Welt. Da sah die Erde, dass sie einen Fehler begangen hatte und
ließ den Wein wachsen. Der hilft den Einsamen durchs Leben, wenn sie
auch immer nach der Liebe suchen. Manche können damit fliegen. So bin
ich zum Mond gekommen."
Ich denke, das reicht. Das Mondkälbchen wird nicht gemerkt haben, dass
ich die Liebe nicht erklären kann. Aber ich habe mich getäuscht. Es
ist klüger als ich dachte.
"Omar, du solltest der Erde sagen, dass die Wesen zuerst sich selbst
lieben sollen. So geht die Liebe nicht verloren."
Die Antwort hat mich sehr überrascht und ich werde mir den Satz merken
bei meinem nächsten Besuch auf der Erde.
Ich habe immer weniger Freude daran, zur Erde zurückzukehren. Der Mann
im Mond beobachtet die Erde. Er hat von Natur aus einen Gegenstand,
eine Laterne. Es ist so ziemlich der einzige Gegenstand, der nicht
sofort zerfällt. Das Zerfallen ist übrigens auch der Grund für meine
Erdaufenthalte. Es ist nicht die Liebe, es ist der Wein und den gibt
es leider nur in Flaschen und Fässern. Mit der Laterne hat er einen
besonderen Durchblick. Er kann auf der Erde alles sehen. Nur erklären
kann er es nicht. Darum fragt er mich oft um Rat. Er ist sehr
geschwätzig. Er hat einen Hund beobachtet, der ein Schaf angefallen
hatte. Ich konnte ihm das nicht erklären. Es passte nicht in mein
Schema.
Das Mondkälbchen hat zugehört. Es fragt mich, warum ich das nicht
erklären kann.
"Warum, Omar, der doch in beiden Welten zu hause ist, kannst du mir
das nicht erklären?" "Weil ein Hund kein Kalb reißt sondern es hütet."
"Aber - es ist doch mit mir verwandt. Ich bin auch ein Kälbchen!"
Das Mondkälbchen ist sichtlich verstört und ich versuche es zu
beruhigen.
"Es wird eine Krankheit sein." "Was ist Krankheit?"
Das wird schwierig.
"Krankheit ist der Weg in den Tod auf der Erde." "Erlöschen die Wesen
auf der Erde nicht wie die Sterne" "Nein, sie leiden vorher." "Was ist
Leiden?"
Das habe ich erwartet. Jetzt muss ich gleich Gott ins Spiel bringen.
Aber das will ich auf jeden Fall vermeiden.
"Leiden ist etwas, was die Wesen der Erde einander zufügen aus Mangel
an Liebe."
Vielleicht hätte ich das mit Gott sagen sollen, vielleicht auch
schweigen. Ich vermisse das Mondkälbchen sehr, wenn ich allein die
Sonnenuntergänge betrachte. Ich wünsche mir, dass es bald wieder zu
mir zurückkommt.
©Karlheinz Lörner
|