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Begegnungen der besonderen Art



Jörg Borgerding - alias Jottbe



Schisser


Ein Festmahl für Hitler

Das Methusalem-Kompott

Gutemiene.htm
(noch eine Katzengeschichte)

Gedichte







 

 

 

 

 



                                

 

 

 

 

 






 

 

 

 


 

           
        

 

 

Schisser Jörg Borgerding

Wie ein Fremdkörper schob die Sonne sich durch die Wolken, zaghaft zunächst, als traue sie es sich selbst nicht mehr zu, nach der langen Zeit des Dauerregens die Erde zu trocknen.
Es hatte tatsächlich und endlich aufgehört zu regnen!
Am meisten über den Wetterumschwung freuten sich die Kinder. Zum Jahreswechsel hatte es noch Schnee und Eis gegeben, sie konnten Rodeln und Schlittern, konnten Schneemänner bauen. Doch schon bald nach Beginn des neuen Jahres ging der Schnee in einen ununterbrochenen, fast gleichmäßig fallenden Regen über.

Seit Wochen hatten die Kinder in den Schulpausen das Schulhaus nicht mehr verlassen können, hatten ihre Leberwurstbrote und ihre schrumpeligen Äpfel in den Klassenzimmern gegessen. Schuhe und Kleider, nach dem Lauf durch den Regen hin zur Schule endlich wieder einigermaßen trocken, wären im Matsch des Pausenhofes schnell aufgeweicht und verschmutzt. Es war kein Vergnügen, in klammer Kleidung den Ausführungen des Lehrers zu lauschen. Und nach der Schule hatte es geheißen, im Haus zu bleiben.

Nur Georg, der kleine Georg, der langsame, verträumte, zarte Georg, den die anderen Jungen des Dorfes „Schisser“ riefen, der freute sich nicht über den Wetterumschwung.

„Geh jetzt endlich raus Georg!“, schimpfte seine Mutter an einem Sonnabend, als es schon den dritten Tag trocken und sonnig war. „All’ deine Freunde sind draußen und spielen, und du sitzt hier in deinem Zimmer und bist blass wie Dünnbier mit Spucke!“
„Das sind nicht meine Freunde“, dachte Georg, gab aber nach, zog seine Stiefel und seine dicke Jacke an und ließ sich widerstrebend von der Mutter eine Wollmütze aufsetzen. „Sommer ists noch nicht!“, mahnte die, „und du weißt, wie leicht du dich erkältest!“

Georg trat vor die Tür, atmete die würzig-frische Luft ein und hörte das Geschrei der anderen. Langsam trottete er die Straße entlang, auf das Brachland am Dorfrand zu. Dort tobten die Jungs, genossen das Spiel an der frischen Luft wie die Freilassung aus einem Gefängnis. Sie spielten einen Reiterkampf.

Der lauteste war wie immer der dicke Lukas, der größte und stärkste von allen, jüngster Sohn des Pastors. Er trug Benno auf dem Rücken, den sie „Füchschen“ riefen, nicht nur seiner roten Haare wegen - er war auch flink und gerissen wie das Tier.
Ihre Gegner waren Gustav und Otto; Gustav, groß gewachsen und kräftig, war der faulste Schüler der Schule, aber die Jungs mochten ihn, denn er war lustig. An seinen Rücken klammerte sich Otto - klein, drahtig und immer hungrig, der Sohn des Schusters.
Die beiden Gespanne umtänzelten einander, rempelten sich gegenseitig an. Gustav und Lukas schwitzten und keuchten, Otto und Benno zerrten sich gegenseitig an den Hemden und versuchten, das gegnerische Paar zu Fall zu bringen. Angefeuert wurden sie von denen, die paarweise gegen die Sieger antreten würden, und die im Kreis um die Kontrahenten versammelt waren und sie anfeuerten: Helmke, der Sohn des Bürgermeisters, Ingo, dessen Vater früh gestorben war, Hartmut, der selten mitspielte, weil er oft in der Schmiede des Vaters helfen musste - und Heinrich, der falsche Heinrich, boshaft und hinterlistig.

„Seht mal - da kommt Schisser!“, rief Heinrich und lenkte Otto mit seinem Ruf für einen Moment ab, was Benno und Lukas ausnutzten, um das gegnerische Paar mit einem Rempler zu Fall zu bringen und den Kampf für sich zu entscheiden.
Georg blieb stehen, einige Meter von der Meute entfernt, die Hände in den Hosentaschen.
„Wegen dir haben wir verloren, Schisser – nur wegen dir!“, schimpfte Füchschen und warf eine Handvoll Erde nach dem Kleinen.
Georg tat einen Schritt zu Seite und wich dem Wurfgeschoss aus. Die anderen kamen auf ihn zu.
„Lass ihn“, sagte Gustav, „sonst läuft Schisser wieder nach Hause und heult seiner Mutter vor, wie gemein wir sind, und die macht dann wieder unsere Mütter verrückt“.

Ein Mal, ein einziges Mal war Georg weinend nach Hause gekommen, nachdem die anderen ihn im Wald in eine Falle gelockt hatten. Fuchsjagd hatten sie gespielt, und Georg war der Fuchs gewesen. Sie trieben ihn auf die Falle zu, die sie gut getarnt hatten – ein altes Erdloch, zwei Meter tief. Plötzlich war dem kleinen Georg der Boden unter den Füßen weggesackt, er stürzte in die Grube, und Äste und Moos prasselten auf ihn herunter. Und oben, um den Krater herum, standen die anderen, lachten und bewarfen ihn mit Kienzapfen und Sand und Ästen. Völlig verdreckt und zerkratzt und weinend kam Georg nach Hause und schilderte der Mutter mit knappen Worten, was ihm widerfahren war. Und die hatte sich am nächsten Tag sanft bei Heinrichs Mutter darüber beklagt, als sie diese zufällig beim Kaufmann getroffen hatte. Das war alles.

„Dabei konnte ich doch gar nichts dafür!“, sagte Gustav, „was warst du so doof und läufst in die Falle! Einem guten Fuchs wäre das nicht passiert – selbst Schuld!“
„So was würde ihm heute nicht mehr passieren, er ist jetzt älter und cleverer, unser Schisser! Ist doch so, Schisser, oder?“, stichelte Heinrich.
Georg zuckte die Achseln.
„Ich glaub auch, heute hätten wir’s schwerer, dich zu fangen, wenn du Fuchs wärst, Schisser!“, hakte Helmke nach.
Georg schwieg.
„Wenn du es schaffst, uns als Fuchs zu entkommen und dich so zu verstecken, dass wir dich nicht finden, würden wir dich nicht mehr Schisser nennen!“, lockte Lukas und forderte seine Kumpane zur Bestätigung auf: „Ist doch so, Jungs, oder?“
Alle nickten, einige grinsten hämisch.
Georg kniff die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander, dachte nach. Niemand sagte ein Wort, die Jungs warteten gespannt.
„Nie mehr Schisser?“, fragte Georg ungläubig.
„Wenn ich’s dir sage, Schisser!“, sagte Lukas. „Wir geben dir eine Minute Vorsprung – nein: zwei sogar! Wir zählen bis 120! Du haust ab, versteckst dich gut und bist nie wieder Schisser!“
Georg blickte Lukas ins Gesicht, dann Gustav, Otto, Füchschen und Heinrich. Wieder war es still. Georg überlegte.
„Und?“, hakte Lukas nach, ungeduldig.
„Na gut“, sagte Georg leise. „Aber denkt dran: Nie wieder Schisser!“
„Also dann – lauf los!“, kommandierte Gustav, und Georg lief.

Es ist nicht leicht, sich frühlings im flachen Land zu verstecken. Den ersten Gedanken, zum Wald hin zu laufen, verwarf Georg schnell – was, wenn sie ihn dort wieder in eine Falle treiben würden? Er war sich keineswegs sicher, nicht wieder einem bösen Spiel, das sie mit ihm trieben, aufgesessen zu sein. Aber einen Versuch war es Wert, endlich dem Spott zu entgehen, mit dem sie ihn immer überzogen hatten, nur weil er kleiner und stiller war als sie, weil er lieber las und seinen Tagträumen nachhing, als an ihren rüden Spielen und ordinären Mutproben teilzunehmen.
„35 – 36“, hörte er die Meute im Chor rufen. Georg drehte sich im Lauf um, noch folgten sie ihm nicht. Sie schienen, zumindest was den Vorsprung anging, Wort zu halten. „51 – 52“, hörte er noch und bog an der Weggabelung ab, zum Fluss hin. Gleich würden sie ihn nicht mehr sehen können, der Weg zum Fluss war von Kiefern und dichten Büschen gesäumt.

„Er läuft zum Fluss“, bemerkte Heinrich, als sie bei 88 waren.
„Der ist so dumm!“, lachte Füchschen und boxte mit der Faust in die Luft, „da ist er ohne Deckung, da ist alles flach“.
„Na los, laufen wir ihm hinterher“, sagte Helmke, „wir müssen uns nicht mal beeilen“.
„Wir sind aber noch nicht bei 120!“, gab Gustav zu bedenken.
Die anderen lachten ihn aus: „Willst du Schisser werden?“

Georg hatte eine Idee. Wenn die ihm annähernd zwei Minuten Vorsprung ließen, könnte er es schaffen, die Kopfweiden zu erreichen, die nahe der alten Brücke am Flussufer standen, zu dutzenden, im Abstand von wenigen Metern. In vielen der alten Baumstämme, seit vielen Jahren und Jahrzehnten immer wieder beschnitten, hatten sich durch Ausfaulung mannstiefe Höhlen gebildet – und in einer davon könnte er sich verstecken. „Nie werden sie mich darin finden!“, hoffte Georg, „und dann habe ich endlich Ruhe vor ihnen“. Schon hatte er die hölzerne Brücke erreicht und konnte die Erlkönige, wie die Weiden im Dorf genannt wurden, bereits sehen.

„Wir kommen!“, hörte Georg seine Jäger von fern rufen. „Sie haben nicht bis 120 gezählt, oder sie haben viel zu schnell gezählt“, dachte er, außer Atem, grämte sich aber nicht. Er hatte die kräftigste der Kopfweiden erreicht. An deren Ästen und schrundiger Rinde empor würde es ihm ein Leichtes sein, die Krone zu erreichen und sich in der Baumhöhle zu verstecken. Georg atmete tief durch und begann zu klettern. Schnell hatte er die vor langer Zeit abgesägte Spitze des Baumes, die von aufstrebenden, jungen Ästen dicht ummäntelt wurde, erreicht, und blickte in die dunkle Höhlung, aus der es ihm muffig entgegenschlug. Ein Blick hin zur Brücke – da kamen sie. „Ich darf mich jetzt nicht aufrichten, darf nicht mit den Füßen voran in den Baum“, wurde es Georg klar, „dann könnten sie mich sehen!“ Er überlegte nicht weiter. Es gab nur einen Weg, sich noch rechtzeitig vor Heinrich und dessen Spießgesellen zu verstecken. Georg drückte sich durch das Gitter von Weidentrieben hindurch, Arme und Kopf voran, und ließ sich langsam, mit gespreizten Ellenbogen am Bauminneren bremsend, in die Höhle gleiten. Deren Durchmesser reichte gerade aus, um den Körper des Knaben in sich aufzunehmen. Seine wollene Mütze fiel vom Kopf, und Georg hörte ein leises Plätschern.

Die Jäger blieben auf der Brücke stehen und hielten Ausschau in alle Richtungen. Sie wunderten sich, Georg von dort nicht sehen zu können.
„Er muss schon vorher vom Weg abgebogen sein … Vielleicht ist er übers Feld, zu Veeths alter Scheune, sich da zu verstecken …“, überlegte Heinrich laut.
„Ja, das wird’s sein!“, pflichtete ihm Otto bei.
„Also los, alle zurück und ausschwärmen!“, ordnete Benno, das Füchsen, an, und sie liefen los, den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Georg glitt tiefer in die Höhle hinab. „Nie mehr Schisser!“, dachte er, „sie werden mich nicht finden!“ Seine Arme und Schultern schmerzten, er hatte keine Kraft mehr, ein Weiterrutschen aufzuhalten. Er gab nach, streckte die Arme aus, suchte tastend den Höhlenboden. Ruckartig glitt sein Körper tiefer in den Baum hinunter. Fingerspitzen, Hände und Ellbogen versanken in Wasser. Georg erschrak, als er kühles Wasser an der Kopfhaut spürte. Und noch immer fanden seine Finger keinen Grund
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© Jörg Borgerding

 

              

 

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