Ein Festmahl für
Hitler
– Jörg
Borgerding
Auf Marut war Verlass. Wann immer ich
den letzten Schluck Raki oder Efes getrunken hatte, eilte er
herbei, ohne dass meine Augen die seinen suchen, ich einen Finger
heben oder gar nach ihm rufen musste. Wortlos sorgte der kleine
dunkelhäutige Türke, in dessen Land ich zu Gast war, dafür, dass
ich nicht austrocknete.
Als ich den Platz auf der Terrasse des Strandrestaurants
eingenommen hatte, saß ich noch im Schatten, den ein barmherziges
Sonnensegel spendete. Seit dem waren gut zwei Stunden vergangen,
die Sonne hatte ein gutes Stück ihres Weges zurückgelegt und
heizte mir gewaltig ein. Mein Hemd war schweißgetränkt, doch das
war mir egal. Vor mir lag auf weißem Teller ein großes, gegrilltes
Steak, das ich mir als Mittagessen bestellt hatte. Es war
unberührt, längst kalt, nicht ein Stückchen davon hatte ich
gegessen. Ich hatte nur getrunken - und ich begann, das zu spüren.
Es waren keine weiteren Hotelgäste mehr im „Sandals“, wie dieses
Restaurant des All-Inclusive-Hotels hieß, in dem ich vor drei
Tagen – anders, als zunächst geplant, nämlich alleine -
abgestiegen war. Bald würde das Restaurant den Mittagsbetrieb
einstellen, die Putzfrauen würden den Holzboden fegen und die
Tische säubern, und Marut und seine Kollegen würden die Tische für
den Abend decken.
Und ich saß da, trank Raki um Raki und Bier um Bier, wie auch
schon an den beiden Tagen zuvor, und kriegte das Bild nicht aus
dem Kopf, das sich mir geboten hatte, als ich an jenem Donnerstag,
knapp eine Wochen vor dem Abflug, früher als geplant von der
Arbeit heim kam und Sonja nackt im Wohnzimmer auf dem Teppich
kniend vorfand. Da lag auch ein Mann rücklings auf dem Teppich,
ebenfalls unbekleidet. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Sonja
hockte darauf.
Soeben hatte Marut mir ein weiteres türkisches Herrengedeck
gebracht. „Bald Schluss, Chef!“, sagte er und sah mich, wie mir
schien, ein wenig mitleidig an.
„Ja, Marut - bald Schluss!“, antwortete ich, merkte, das meine
Zunge schwer zu dirigieren war und prostete dem Kellner zu. „Bald
Schluss“, murmelte ich nochmals, in das Glas hinein.
Ich spürte etwas am Bein. Ich schaute nach unten und erblickte
Hitler.
Ich mag Katzen, war immer fasziniert von ihrem stoischen
Gleichmut, ihrem selbstvergessenen Sein, war schon oft ihren
scheinbar leeren Blicken erlegen, die gleichsam alles Wissen der
Welt und noch viel mehr in die Unendlichkeit senden oder von dort
empfangen, in der Überzeugung, dass sie all die darin enthaltene
Weisheit für ihr Wohlempfinden nicht benötigen – alles, was sie
dafür brauchen, sind jede Menge Schlaf und ein paar Mäuse.
Katzen waren für mich immer die schönsten Tiere der Schöpfung. Und
das hässlichste dieser schönen Wesen hockte in einem türkischen
Freilufthotelrestaurant zu meinen Füßen, und sah mich aus
eiskalten, eitergelben Augen mit winzigen schwarzen Pupillen an.
Überwiegend schmutzig-weiß das Fell, mit einigen wenigen schwarzen
Flecken darin. Einer davon überzog den Schädel der Katze und wurde
auf der rechten Kopfhälfte gradlinig von einem feinen weißen
Streifen gescheitelt. Ein weiterer, kleiner dunkler Fleck auf der
Kinnspitze erinnerte im Zusammenhang mit der Katzenfrisur sehr an
den widerlichsten Schnauzbart der Weltgeschichte.
Nicht genug damit, begann Hitler zu sprechen. Und die Katze sah
nicht nur aus wie der GröFaZ - sie sprach auch so. „Ihr Essen –
schmeckt es Ihnen nicht?“ Ich schüttelte heftig den Kopf, rieb mir
Augen und Nacken, ließ den Kopf auf den Schultern kreisen, trank
mit einem Schluck den süßen Anisschnaps aus und blickte wieder zu
Boden. Hitler saß immer noch da. Er war keine Ausgeburt meiner
Trunkenheit.
Er seufzte und begann zu erklären. „Ich bin dazu verdammt, immer
und immer wieder aufzuerstehen und immer und immer wieder als
Hotelkatze in wechselnden Orten und Ländern dahin zu vegetieren -
bis mich ein tunesischer Hotelboy packt und mir den Hals umdreht,
mich thailändische Rotzlöffel in einer entlegenen Ecke hinterm
Hotel steinigen, mich streunende, verlauste Strandhunde in Zypern
zerreißen und auffressen, verrohte halbwüchsige Niederländer mir
einen Schlauch in den After stecken und mich mit Wasser voll
pumpen, bis mir …“ Er stockte, atmete schwer. Fast weinerlich fuhr
er fort: „Ich wäre lieber tot - richtig tot, für immer und ewig,
glauben Sie mir! Mein letzter Tod war die Hölle – in einem
Strandhotel in Tel Aviv wurde ich von betrunkenen russischen
Touristen mit Grillanzünderflüssigkeit besprüht und entflammt!
Sagen Sie mir – womit habe ich das verdient?“
Die letzte Frage schien mir eine rhetorische zu sein, darum
antwortete ich nicht. Er fasste sich wieder. „Also – was ist nun
mit dem Essen?“, fragte er fordernd.
„Es ist Fleisch“, sagte ich, „Sie … Sie sind … Sie waren
Vegetarier!“
„Nur bedingt. Außerdem war das eine andere Zeit. Die Umstände
haben sich geändert. Ich muss fressen, was ich kriege. In Tel Aviv
habe ich sogar, kurz bevor ich den Feuertod starb …,“, es fiel ihm
sichtlich schwer, weiter zu sprechen, „… Gefilte Fisch gegessen -
denken Sie sich nur!“
Ich versuchte, nicht zu denken. Mit unsicherer Hand führte ich das
Messer, schnitt ein Stückchen des Steaks ab und warf es der
Reinkarnation des Bösen vor die schwarzen Vorderpfoten. Gierig
schluckte der Kater, ohne zu kauen, blickte Nachschub heischend zu
mir auf. Ich gab es ihm. Stück für Stück schnitt ich vom Steak ab
und fütterte den amtierenden Weltmeister im Massenmord.
Kaum hatte ich den letzten Happen zu Boden fallen lassen, sah ich
eine andere Katze auf meinen Tisch zu humpeln, die noch hässlicher
war als jene, die laut schmatzend neben meinem Tisch ihr Festmahl
verspeiste. Klein, mickrig, anthrazitfarben und rattengesichtig,
die rechte Vordertatze saß ihr wie ein Klumpen an der verkümmerten
Pfote. Es wunderte mich nicht, dass auch diese Katze sprach. Es
wunderte mich nicht, wie sie sprach, als sie bei dem Schlemmenden
angekommen war. Es wunderte mich nicht, dass er es war.
„Mein Führer! Mein Führer!“
Hitler brauste auf. „Wie können Sie es wagen, mich bei dem besten
Essen zu stören, das ich seit meinem letzten Aufenthalt auf dem
Kehlstein zu mir nehme!?“
„Aber mein Führer – Sie sind in großer Gefahr! Wir sind in großer
Gefahr! Einer der Hotelgärtner – ich habe ihn erkannt! Es ist …“
„Schweigen Sie endlich still und lassen Sie mich mein Mahl
genießen“, herrschte der vierbeinige Führer seinen
dreieinhalbbeinigen Propagandaminister an, woraufhin der - wie ein
geprügelter Schäferhund - seinen Schwanz zwischen die Hinterpfoten
klemmte und einige hinkende Schritte auf Distanz ging.
Mir reichte es. Ich erhob mich, trank im Stehen mein Bier aus,
warf einen letzten Blick auf Hitler, der seine Mahlzeit fast
beendet hatte und Fleischkrümel und Grillsoßentropfen vom Fußboden
leckte.
Ich trat aus dem wandlosen Restaurant hinaus auf den Rasen und
wollte hinunter zum Strand, um mich unter einen Sonnenschirm zu
legen und zu versuchen, auch dieses Bild aus dem Kopf zu bekommen.
Ich drehte mich noch einmal um, zu sehen, ob die Nazi-Katzen
wirklich da waren, oder ob es vielleicht doch nur böse Gaukeleien
meines vernebelten Hirns waren.
Sie waren da. Hitler sprang vom erhöhten Holzboden des Restaurants
auf den Rasen. Goebbels folgte ihm. Ich hörte ihn rufen: „Der
Gärtner - mein Führer! Sehen Sie doch den Gärtner!“
Hitler sah zur Seite und erblickte ihn im selben Moment wie ich.
Neben einem buschigen Oleander, einen Spaten in der Hand, und nur
gut eine Spatenstiellänge von den Katzen entfernt, stand ein
dicker, alter Mann mit spärlichem Haar und teigigem Gesicht, eine
Zigarre im Mund. „Das ist doch dieser verdammte britische …“,
belferte Hitler los, weiter kam er nicht.
Erstaunlich schnell für seine massige Gestalt holte der Gärtner
mit seinem Spaten aus und schlug auf Hitler ein. Immer und immer
wieder. Der erste Schlag hatte ihn wohl schon gelähmt und halb
betäubt, dennoch fauchte und keifte Katzenadolf weiter, bis sein
Fell riss und sein Schädel platzte, und Hirn, Blut und Gedärme
über den Rasen spritzten. Fassungslos - oder aus bedingungsloser
Loyalität? - sah Goebbels zu, wie sein Gott auf einem türkischen
Hotelrasen verreckte, jammerte ein letztes Mal „Mein Führer! Mein
Führer!“, bevor der offensichtlich ebenfalls wiederauferstandene
britische Premierminister ihm mit einem einzigen Spatenkantenhieb
den Rattenkopf vom Leib trennte und der Hinkekater in einem
gewaltigen Blutstrahl sein Leben vergoss.
Ich beugte mich leicht vor und kotzte mir auf die Füße. Der
Gärtner signalisierte mir mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger
seinen Sieg und marschierte, den Spaten über die Schulter, die
britische Nationalhymne pfeifend, davon. Gleichzeitig war Marut
herbeigeeilt, hielt mich, stützte mich, redete mir gut zu und
wischte mit einem Tuch Flecken von meinem Hemd. Ja - auf Marut war
Verlass.
© Jörg Borgerding
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