LYRIK
11 Gedichte
donauabend sommerkanal / inselschrift / cali 93 / ode an cali / kreuzweise / lied
der schwere / ist da ein satz? / wir glauben weil uns sonst nichts bliebe / an manchen tagen /
bern, morgendlich / hatte dich lieb hab ich noch / am fluss
inselschrift
der regen hat die sprache fortgeschwemmt
von meiner insel, ausgehöhlt vom regen
ich halte meinen festen schritt dagegen
und presse mir die worte aus dem hemd
die mütze zieh ich tiefer ins gesicht
die buchenstaben schwimmen vor den augen
ich lass mein gestern sich ins heute saugen
aus untergründen löst sich schicht für schicht
das ungesagte, dunkle sedimente
die an den sohlen haften, schwammig schwer
ein blüh’nder zweig treibt übers wasser her
in weichen fluten mischt sich das getrennte
das traumgeäst fängt sich im wehr
cali 93
auf deinem atem ist gut fliegen
der wind schmeckt nach dir und nach diesel
die brücke stösst sich ab vom asphalt
steigt auf über cali
ich hab die strassen umgebaut
nach sehnsuchtsplänen
trink ein cola mit lazarus
ich rück jeden stein zurecht
koloriere die skyline
meine fremdheit verkleidet
in dir
ode an cali
o cali, metropole der schluchzenden busse
wo sich zur mittagsstunde der geier am himmel entlaedt
drei kreuze auf der kordillere und dreiunddreissig antennen
o cali, einzigartig verwechselbare, getreues mosaik meiner
vorurteile
du laesst mein herz hoeher schlagen, manchesmal bis zum hals
o du krakenarmige herrin der stadtautobahnen
unter deren bruecken die geisterkinder die zaehne fletschen
dein vergaenglicher abend oeffnet sich wie eine ueberreife
papaya
aus der schwarze kerne aufstieben wie vogelsamen
dann hackt die sichel der nacht ein stueck aus deinem leib,
das die marihuaneros kichernd verspeisen
o du ausgedoerrte, o du sturzgeflutete, o du luegenreiche
jungfrau vom berge
du opfer der schoenheitschirurgie, der falschen brueste,
begradigten aersche
du glueckliche puffmutter der gesellschaftsspalte, wir
freuen uns bekanntzugeben, dass unsere tochter auf den
heiratsmarkt geworfen wird und wuenschen einen guten appetit
o du pfandleiherin der plastikherzen, truebe transakteurin
der letzten stunde
zinsfuerstin der kreditunwuerdigen, bitte fuer uns!
namenlose loescherin des lichts, erbarme dich unser!
geh auf die jagd nach den geisterkindern, wenn wir schon
fernsehen oder ficken
und zieh die maske hoeher, damit man nicht sieht, wie dein
gesicht unserem gleicht
o cali, du verkaufte braut mit der stacheldrahtkrone,
du ueberlebenskoenigin der salons und sexshops, du letzter
ausweg in camouflage und push-ups, nichts hemmt den strom
deines blutes, wenn dich die patrioten laechelnd ans kreuz
schlagen
ich kaemme mir die wut aus den haaren und steck noch ein
bonbon in den mund
cali/kolumbien, juli 2003
lied der schwere
meine eisernen flügel
meine unzerstörbaren schwingen
mein schweres gefieder
wer fliegt, wer spricht, wer ist noch nicht blind
meine eiserne zunge
meine unzerstörbaren worte
mein schweres versagen
wer fliegt, wer spricht, wer ist noch nicht blind
meine eisernen augen
meine unzerstörbaren blicke
mein schweres versehen
wer fliegt, wer spricht, wer ist noch nicht blind
ist da ein satz?
ist da ein satz der mehr als and’re wiegt
wo worte sich wie von alleine sagen
ein satz an den sich keine zweifel wagen
wo wort an wort, wie hand an hand geschmiegt
gäb’s diesen satz wo wahn bei wahrheit liegt
wie sagtest du ihn und an welchen tagen?
ist da ein satz der mehr als and’re wiegt?
und wär’n durch ihn die früh’ren nicht versiegt
die du so heftig aus dem wort geschlagen?
und nach ihm, könntest du erjagen
noch einen satz der so wie dieser fliegt?
ist da ein satz der mehr als and’re wiegt?
kreuzweise
ich bete
einen rosenkranz verlorener tage
dazwischen mund zu mund
der druck aufs herz
und noch eine perle
nachspülen mit egal womit
ja und amen
und schlechtes gewissen
als kopfkissen um drei uhr morgens
es ist schon ein kreuz mit mir
wir glauben weil uns sonst nichts bliebe
wir glauben weil uns sonst nichts bliebe
was könnte hoffnung uns erlauben
die wir ganz ohne hoffnung glauben?
denn welche hoffnung lässt die liebe
wenn tage herbstlich sich entlauben?
wir glauben weil uns sonst nichts bliebe
und fürchten noch im glück wie diebe
ein andrer möcht das glück uns rauben
wir wollen selbst uns kaum erlauben
nicht herz noch hoffnung, traum noch triebe
wir glauben weil uns sonst nichts bliebe
donauabend sommerkanal
an der ufermauer drüben scheuert die zille in nutzloser
drehung
durch die wandelbare hyperbel von kette und gegenbild
gekräuselte felder schweben silbern blinkend stromabwärts
und die achtuhrsonne leckt mit weicher zunge den stein
ein zahnloser himmel schaut den frauen ins dekolleté
es ist sommer, wir hören nirvana ohne zu hören
eine hochgekämmte mit intelligenten beinen sieht den
radfahrern nach
es ist sommer, wir spielen, wir rauchen, wir denken an sex
an der kette das graue boot im zeitlupentanz
der wind - ein lässiger jogger - hockt sich zu uns an den
tisch
die letzte sonne ruht auf der zille, die nun tiefer liegt
ein junge jongliert mit drei stöcken, die pappeln schütteln
liebe ins bier
es ist sommer, die erde vibriert
von vorbeifahrenden untergrundbahnen
und tausend masturbierenden ameisen
es ist sommer, kinder, bringt euch in sicherheit
bern, morgendlich
auf das plastiktischtuch streut der regen
seine schrift bewusstlos transparent
schnecken drängen sich auf nassen wegen
unterm vordach hock ich ungekämmt
heute morgen lange wachgelegen
und dann ungeduscht in jeans und hemd
fühl mich hier zu hause und doch fremd
bin verwirrt und habe nichts dagegen
auf dem tisch, von gestern noch die gläser
die septemberregen füllt aufs neu
meine blicke fliessen in den garten
eine amsel untersucht die gräser
die oktoberkatze schwingt im pneu
hier wär's schön, den abend zu erwarten
hatte dich lieb hab ich noch
bescheiden blüht die schmale wunde
die mir dein eizahn in die stirn geschlagen
du hast dich selber aus dem nest getragen
und fliegst noch eine ehrenrunde
und wenn auch meine herben magen-
säfte seit deinem abgang derber quellen
und wenn auch meine narrenschellen
etwas gedämpfter läuten seit dem scherbentage
stellt dein entschluss mich selber nicht in frage
doch unbestreitbar bohrt zur stunde
phantomschmerz an all jenen stellen
wo du mir teil warst in gedankenhellen
nächten, und ich deinem munde
mit salz und silber deutete die lage
am fluss
am fluss schlief ich ein
als ich erwachte
war der sommer vergangen
waren vier
waren alle sommer vergangen
das rad stand still
ich vermochte es nicht mehr zu drehn
vögel nisteten in den speichen
der sommer war eingeschlafen am fluss
als er erwachte
war ich vergangen
Alle Gedichte ©
Wolfgang Ratz
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