Autoren  Kollegen  Freunde 

Begegnungen der besonderen Art


Wolfgang Ratz



PROSA

Sara und Hubert I 
aus dem Romanprojekt "Schönwetterpiloten"


Die Seele des Künstlers


Überlandfahrt von Cali nach Ibagué 
Reisebericht

 

 

 

 

 

'traumtier', ein weiteres meiner Lieblingsgedichte von Wolfgang Ratz ist veröffentlich in:




text-für-text, Poesie & Prosa,
24 Autoren, vorgestelt von: Matthias von Schramm, Elke Moeller, Dietrich Feldhausen, Sigrid Kriener
- ISBN 3-86901-001-0

 

 






 




 

 


 





LYRIK

11 Gedichte

donauabend sommerkanal / inselschrift / cali 93 / ode an cali / kreuzweise / lied der schwere / ist da ein satz? / wir glauben weil uns sonst nichts bliebe / an manchen tagen / bern, morgendlich / hatte dich lieb hab ich noch / am fluss




inselschrift 


der regen hat die sprache fortgeschwemmt 
von meiner insel, ausgehöhlt vom regen 
ich halte meinen festen schritt dagegen 
und presse mir die worte aus dem hemd 

die mütze zieh ich tiefer ins gesicht 
die buchenstaben schwimmen vor den augen 
ich lass mein gestern sich ins heute saugen 
aus untergründen löst sich schicht für schicht 

das ungesagte, dunkle sedimente 
die an den sohlen haften, schwammig schwer 
ein blüh’nder zweig treibt übers wasser her 
in weichen fluten mischt sich das getrennte 

das traumgeäst fängt sich im wehr




cali 93 

auf deinem atem ist gut fliegen 
der wind schmeckt nach dir und nach diesel 
die brücke stösst sich ab vom asphalt 
steigt auf über cali 

ich hab die strassen umgebaut 
nach sehnsuchtsplänen 
trink ein cola mit lazarus 

ich rück jeden stein zurecht 
koloriere die skyline 
meine fremdheit verkleidet 
in dir 




ode an cali 


o cali, metropole der schluchzenden busse 
wo sich zur mittagsstunde der geier am himmel entlaedt 
drei kreuze auf der kordillere und dreiunddreissig antennen 
o cali, einzigartig verwechselbare, getreues mosaik meiner vorurteile 
du laesst mein herz hoeher schlagen, manchesmal bis zum hals 

o du krakenarmige herrin der stadtautobahnen 
unter deren bruecken die geisterkinder die zaehne fletschen 
dein vergaenglicher abend oeffnet sich wie eine ueberreife papaya 
aus der schwarze kerne aufstieben wie vogelsamen 
dann hackt die sichel der nacht ein stueck aus deinem leib, 
das die marihuaneros kichernd verspeisen 

o du ausgedoerrte, o du sturzgeflutete, o du luegenreiche jungfrau vom berge 
du opfer der schoenheitschirurgie, der falschen brueste, begradigten aersche 
du glueckliche puffmutter der gesellschaftsspalte, wir freuen uns bekanntzugeben, dass unsere tochter auf den heiratsmarkt geworfen wird und wuenschen einen guten appetit 

o du pfandleiherin der plastikherzen, truebe transakteurin der letzten stunde 
zinsfuerstin der kreditunwuerdigen, bitte fuer uns! 
namenlose loescherin des lichts, erbarme dich unser! 
geh auf die jagd nach den geisterkindern, wenn wir schon fernsehen oder ficken 
und zieh die maske hoeher, damit man nicht sieht, wie dein gesicht unserem gleicht 

o cali, du verkaufte braut mit der stacheldrahtkrone, 
du ueberlebenskoenigin der salons und sexshops, du letzter ausweg in camouflage und push-ups, nichts hemmt den strom deines blutes, wenn dich die patrioten laechelnd ans kreuz schlagen 
ich kaemme mir die wut aus den haaren und steck noch ein bonbon in den mund 


cali/kolumbien, juli 2003 




lied der schwere 

meine eisernen flügel 
meine unzerstörbaren schwingen 
mein schweres gefieder 

wer fliegt, wer spricht, wer ist noch nicht blind 

meine eiserne zunge 
meine unzerstörbaren worte 
mein schweres versagen 

wer fliegt, wer spricht, wer ist noch nicht blind 

meine eisernen augen 
meine unzerstörbaren blicke 
mein schweres versehen 

wer fliegt, wer spricht, wer ist noch nicht blind 




ist da ein satz?


ist da ein satz der mehr als and’re wiegt
wo worte sich wie von alleine sagen
ein satz an den sich keine zweifel wagen
wo wort an wort, wie hand an hand geschmiegt
gäb’s diesen satz wo wahn bei wahrheit liegt
wie sagtest du ihn und an welchen tagen?
ist da ein satz der mehr als and’re wiegt?
und wär’n durch ihn die früh’ren nicht versiegt
die du so heftig aus dem wort geschlagen?
und nach ihm, könntest du erjagen
noch einen satz der so wie dieser fliegt?
ist da ein satz der mehr als and’re wiegt?




kreuzweise


ich bete 
einen rosenkranz verlorener tage 
dazwischen mund zu mund 
der druck aufs herz 
und noch eine perle 
nachspülen mit egal womit 
ja und amen 
und schlechtes gewissen 
als kopfkissen um drei uhr morgens 
es ist schon ein kreuz mit mir 




wir glauben weil uns sonst nichts bliebe 

wir glauben weil uns sonst nichts bliebe 
was könnte hoffnung uns erlauben 
die wir ganz ohne hoffnung glauben? 
denn welche hoffnung lässt die liebe 
wenn tage herbstlich sich entlauben? 
wir glauben weil uns sonst nichts bliebe 
und fürchten noch im glück wie diebe 
ein andrer möcht das glück uns rauben 
wir wollen selbst uns kaum erlauben 
nicht herz noch hoffnung, traum noch triebe 
wir glauben weil uns sonst nichts bliebe 




donauabend sommerkanal 

an der ufermauer drüben scheuert die zille in nutzloser drehung 
durch die wandelbare hyperbel von kette und gegenbild 
gekräuselte felder schweben silbern blinkend stromabwärts 
und die achtuhrsonne leckt mit weicher zunge den stein 
ein zahnloser himmel schaut den frauen ins dekolleté 
es ist sommer, wir hören nirvana ohne zu hören 
eine hochgekämmte mit intelligenten beinen sieht den radfahrern nach 
es ist sommer, wir spielen, wir rauchen, wir denken an sex 
an der kette das graue boot im zeitlupentanz 
der wind - ein lässiger jogger - hockt sich zu uns an den tisch 
die letzte sonne ruht auf der zille, die nun tiefer liegt 
ein junge jongliert mit drei stöcken, die pappeln schütteln liebe ins bier 
es ist sommer, die erde vibriert 
von vorbeifahrenden untergrundbahnen 
und tausend masturbierenden ameisen 
es ist sommer, kinder, bringt euch in sicherheit 




bern, morgendlich

auf das plastiktischtuch streut der regen 
seine schrift bewusstlos transparent 
schnecken drängen sich auf nassen wegen 
unterm vordach hock ich ungekämmt 

heute morgen lange wachgelegen 
und dann ungeduscht in jeans und hemd 
fühl mich hier zu hause und doch fremd 
bin verwirrt und habe nichts dagegen 

auf dem tisch, von gestern noch die gläser 
die septemberregen füllt aufs neu 
meine blicke fliessen in den garten 

eine amsel untersucht die gräser 
die oktoberkatze schwingt im pneu 
hier wär's schön, den abend zu erwarten 




hatte dich lieb hab ich noch 

bescheiden blüht die schmale wunde 
die mir dein eizahn in die stirn geschlagen 
du hast dich selber aus dem nest getragen 
und fliegst noch eine ehrenrunde 

und wenn auch meine herben magen- 
säfte seit deinem abgang derber quellen 
und wenn auch meine narrenschellen 
etwas gedämpfter läuten seit dem scherbentage 

stellt dein entschluss mich selber nicht in frage 
doch unbestreitbar bohrt zur stunde 
phantomschmerz an all jenen stellen 

wo du mir teil warst in gedankenhellen 
nächten, und ich deinem munde 
mit salz und silber deutete die lage 




am fluss

am fluss schlief ich ein 
als ich erwachte 
war der sommer vergangen 
waren vier 
waren alle sommer vergangen 

das rad stand still 
ich vermochte es nicht mehr zu drehn 
vögel nisteten in den speichen 

der sommer war eingeschlafen am fluss 
als er erwachte 
war ich vergangen 

Alle Gedichte © Wolfgang Ratz

 

 

Autoren  Kollegen  Freunde
Inhalt