Doderama präsentiert Doderers Abenteuer

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5. Meine ersten Jahre hindurch lebte ich überhaupt in einer großen Einsamkeit und Stille. Nur die qualmend vorbeirasenden Lokomotiven füllten die Welt mit Lärm. Aber auch nicht immer: manchmal raste so ein Zug, gegen jede Notwendigkeit, völlig lautlos vorbei, die schwarze Lokomotive jagte in mächtigen Sätzen die Geleise entlang und schleifte die taumelnden Waggons hinter sich her. Alle Fenster waren weit heruntergeschoben, Vorhänge schlugen wie verrückt gegen die grüne Außenhaut der Waggons. Die Züge waren grausame Götter, sie forderten gelegentlich Blutopfer und die bekamen sie auch. Ich weiß noch: drei winzige weiße Särge. Alle Kinder einer Familie, keines älter als fünf. Ein vierjähriges Zwillingspärchen und ihre um ein Jahr ältere Schwester. Sie waren auf die Geleise geklettert, um mit Schottersteinen vom Bahndamm auf dem blanken Stahl Nüsse zu knacken. Die Räder erfaßten zwei, das dritte kam noch vom Bahndamm herunter, aber dieser Zug war sehr gierig. Er schleuderte einen der auf das Geleise gelegten Steine nach dem Kind und durchschlug der Entkommenen die Schläfe. Der Vater der kleinen Toten war Postbote im Viertel und wir alle sahen nun täglich sein von Verzweiflung verwüstetes Gesicht.
Ich war oft auf den Geleisen, wurde aber verschont. 

Es gibt einen Maler, Delvaux, glaube ich  heißt er, der hat die Stimmungen meiner Kindheit aufs trefflichste eingefangen. Bahnhöfe und Geleise im Mondlicht, verlassene Züge. Einer seiner Bahnhöfe sieht exakt so aus, wie der eines kleinen Städtchens im Osten von München. Dort saß ich eines Nachmittags, Ende August, in den frühen Sechzigern war's, und nahm gedanklich Abschied von meiner ersten großen Liebe. Wolken zogen auf im Westen, ein Frontgewitter braute sich zusammen. Die ersten Windstöße, viel zu kalt für die Böen eines Hitzegewitters, fuhren in die Bäume und wirbelten ein wenig Staub und einen zerdrückten Pappbecher über den Bahnsteig. Nicht nur meine Liebe war gestorben, auch der Sommer lag in Agonie. Ich wartete fröstelnd auf den Zug nach Hause und kaute dabei auf einem für mein letztes Geld gekauften lappigen Wurstbrötchen herum. Der Zug fuhr dann ins Gewitter hinein, dicke Tropfen platzten auf den Scheiben. Der Fahrtwind machte daraus dünne Silberfäden und zog sie diagonal übers Fenster. Und das sage noch einer, daß das Leben nicht kitschig sei. Das Leben ist kitschig, geschmacklos, grausam und vor allem: unübersichtlich. Meine Kindheit und Jugend existieren eigentlich nur in diesen Bildern. Welch ein Glück. Bilder kann man abhängen.

 

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