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Im Zentrum
Die Häuser längs der jähen
Wege stehen in frischen Farben, mit blanken, unverhangenen Fenstern.
Ihre gut einsehbaren Räume scheinen bewohnt aber plötzlich
verlassen. So manche Schüssel steht frisch dampfend auf dem
gedeckten Tisch. Die Servietten stecken großteils noch in ihren
Ringen, einige jedoch, wie hastig hingeworfen, senken sich justament
neben das blanke Geschirr hinab. Jäh abgebrochene Tischgebete
verklingen aus geöffneten Fenstern in der violetten Abendluft. Die
beiden Eilfertigen halten ein, um ein Rudel über die Straße
kriechender Breviere und Gesangsbücher passieren zu lassen.
”Wir queren gerade das Viertel der Frommelanten”, erklärt
Peinlich, der
Ortschreiber, dem Sindbad. ”Dieses Völkchen erwartet immer noch
die jenseitige Herüberkunft, ohne zu ahnen, daß alle ihre diesbezüglichen
Wünsche längst erfüllt sind. Das Ortsgenie Solemnius wollte zur
Erlösung dieser Wartenden eine das allseitige Ende verkündende
Dampfgottheit konstruieren. Der Plan wurde aber nach langen
Diskussionen vom Relativitätsausschuß der hiesigen Akademie
abgelehnt. Ein jeder müsse mit seiner Weltanschauung ungestört und
ohne aufgenötigte Hilfe auskommen dürfen.”
”Gehören alle Alteingesessenen zum Formenkreis der
Glaubhaften?” will Sindbad wissen.
”Keineswegs! Die meisten der Einwohner halten nichts von
Versprechungen
künftigen Heils, da Zeit hier keine knappe Ressource darstellt, wie
anderswo noch üblich. Wenn genügend Gegenwart zur Hand ist, entfällt
der Drang, auf Künftiges zu hoffen. Ein Gutteil der Altsassen
besteht überdies aus religiös unmusikalischen
Nicht- und Sondermenschen.”
Sindbad lauscht verständnisinnig und erhebt gerade das Spielbein
zum Fortgang ins Zentrum, da wankt ein laut räsonierender
Darrkopf-Sparren den Bürgerinnen- und Bürgersteig herunter. Als er
des Peinlich ansichtig wird reißt er die scharf bebrillten Augen
auf. Seine Rechte fährt in schlenkerndem Gedeute auf den Ortspoeten
zu.
”Diese insgesamt äußerst suspekte und undurchsichtige Geschichte
gipfelt in einem völlig indiskutablen Ende, mein lieber Peinlich.
Dies ist kein Roman, dies ist eine Zumutung!” Der Kritiker fährt
seine Zunge ein und eilt am Gescholtenen vorbei zum Stadttor
hinunter. ”Woher kommen sie und wohin wollen sie werter
Darrkopf?”, ruft ihm der Ölfahrer nach. ”Ich komme vom Ende
dieser Geschichte und will hinunter zum Hafen. Ich werde Abreisen
aus dieser literarischen Monstrosität!” Des Kritikers Zeigefinger
sticht ein letztes Mal schlenkernd in den Abendhimmel, dann ist er
den Berg hinab.
Die beiden stolpern weiter bergan, in ein offizielleres Viertel
hinein. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ragt ein säulengetränkter,
im Grunde würfelförmiger Graubau: das Museum der alten
Meisterinnen und Meister. Gebaut zu einer Zeit, in der vorgebliche
Reiseschriftsteller und bombastische Tonwüteriche denselben angaben
in der Umgebung des Ortes. Des ältesten und reinsten aller Meister
Werke wurden versammelt und aufgehängt in den Hallen. ‘Betende
Hasen’, ‘Betende Hoden’ und ‘Betende Hände’ sind Teile
seines bedeutendsten Tryptichons ‘Betteln Verboten’, und nur
hier im Ort vollständig ersichtlich.
Die Häuser, nahe dem Zentrum, gewinnen Gesicht. Verwittertes Gemäuer
schaut aus bebrauten Fenstern streng auf die zwei einsamen Steiger.
Tore wie spottschiefe Mäuler stehen offen ins Halbdunkel der
inneren Räume hinein. Aheu und Würgerich umklammern Gebälk und
Regenrinnen, hängen Bärte an Balkone und Balustraden, überziehen
Fassaden mit struppigen grünbraunen Mänteln. Mannsgroße, speckig
glänzende Granitkegel hocken in den wie von submarinem Licht
durchwaberten Innenhöfen. ”Dies sind die Wohnsitze der
Alteingesessenen”, raunt der Peinlich dem Sindbad ins Ohr. ”Sie
sammeln sich ansonsten in wesentlicheren Tiefen des Textes und
wurden in unserer Geschichte niemals beschrieben. Wir befinden uns
jetzt nahezu am Zentrum. Wenn es uns gelingt, einen der uns
offenbarten Höfe zu durchqueren, müßten wir durch eine mögliche
Hintertüre, und, in einem Nachsatz, direkt in die Ortsmitte
gelangen.” Noch ehe der Ölfahrer antworten kann, verschließt ihm
der Peinlich eigenhändig den Mund. ”Leise! Dieses uralte Viertel
liegt schlafend und ist für uns nur deswegen betretbar. Erwachte
dieser Komplex, glitte er ins Unerreichbare hinab, und wir fänden
uns in irgendeinem belanglosen Außenbezirk wieder. Halte dich zu
meiner Linken, ich habe einen uns zugänglichen Innenhof ausersehen.
Er ist glücklicherweise im kleinverwunderlichen Stil erbaut. Wäre
er in der großverwunderlichen Art aufgeführt, widersetzte er sich
meiner Schilderung.”
Der Ortsdichter verweist auf ein Hoftor direkt vor ihren Nasen. Die
hohen Flügel aus dunklem, heftig beschnitztem Holz stehen flüchtig
angelehnt. So unterwandern Sindbad und Peinlich die aus Speckstein
geschnittene Torumfassung mit den grimmig herunterbleckenden Fabelköpfen
und schlüpfen in den Innenhof. Dämmerig und honigschwer steht die
Luft zwischen den Mauern. Dem Sindbad ist‘s, als stiege er mit
einem Schritt auf den Grund eines tiefen Sees von kristallener
Klarheit, als wüchsen ihm dabei die notwendigen Kiemen, um die entrückte
Stille und Reglosigkeit einzusaugen. Das Knarren des zurückschwingen-
den Tores, das Scharren der eigenen Füße auf der Schwelle, diese
und alle anderen Geräusche kommen plötzlich von weit her;
verlauten, wie passend sortiert, zur Gemächlichkeit gezwungen und
harmonisch geglättet.
Der schwarz und weiß geflieste Boden des Innenhofs läßt jeden
Besucher an ein Schachbrett denken, besetzt mit wunderlichen
Figuren: blühender Bauernschlau in Steinguttöpfen, türmende Tonkrüge
mit und ohne Glasuren, randvoll gefüllt mit vergifteten Läufern
und geopferten Springern, alle Figuren aus duftender Zeder gehauen.
Nebenan eine königlich große, hölzerne Puppe, mit geschminkten Bäckchen,
kauernd und ins Leere lächelnd. In der übermannshohen Standuhr auf
dem Damenfeld schwingt ein totes Huhn exakt im Pendelkasten,
anstelle des
Ziffernblattes schimmert ein Spiegel und zeigt dem Sindbad den
Sindbad. Zwei Türen führen ins angehörige Haus. Die eine entbirgt
dem spähenden Blick des Eindringlings ein Bücherzimmer mit überquellenden
Regalen an allen Wänden, mit glotzendem Augensessel und einem
emsigen Blättertischchen davor. Darauf ein offenes Buch, in dem man
unschwer diese Geschichte erkennt. Aufgeschlagen liegen die Seiten
mit der Beschreibung von Hof und Zimmer: ‘Der schwarz und weiß
geflieste Boden des Innenhofs läßt jeden Besucher an ein
Schachbrett denken...’, der Sindbad will sich nicht selbst lesend
lesen und bricht die Lektüre ab. Er wendet sich zurück. An der
Wand glänzt ein frisch gerahmtes Gemälde, Madonna, klein Jesum den
Hintern versohlend. Die zweite Türe ist vernäht wie eine frische
Wunde.
© Max Dernet
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