Autoren Kollegen Freunde
|
Doderer 26.6.2000 Das Sinnchen ... Beim letzten Gang hinauf in den Speicher habe ich übrigens den Sinn des Lebens wiederentdeckt! Er hockte im hintersten Winkel des Dachbodens. Mein Haus steht seit dem vorvorletzten Jahrhundert, bin ich ja schon geschmeichelte 150 und habe das Anwesen von meinem Großvater geerbt, uralt ist mein Haus also & dementsprechend verwinkelt. Da kann sich so ein Sinn schon recht gut und ausdauernd verborgen halten. "Wie lange sitzt Du denn schon hier oben?" fragte ich den Sinn des Lebens. "Seit 1923, seit der letzen Neueindeckung des Dachs" wimmerte der Sinn, mausgrau verstaubt, über und über mit Spinnweben behangen. "Ja hat dich denn niemand vermißt?" fragte ich. "Doch, schon, aber ich war mir nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt noch gelte" seufzte der Sinn kläglich. ‚Gut, daß Du die dreißiger und vierziger Jahre nicht mitbekommen hast, hier oben, sonst wärst Du glatt eingegangen' dachte ich. Mir tat er mit einem Mal furchtbar leid, dieser arme, tief einsame Sinn, wie er so verschüchtert in der dunklen Ecke kauerte. Ich sagte deshalb mit beruhigender Stimme: "Für mich giltst Du nach wie vor. Du bist ein 1a Sinn, wirklich. Komm mit mir runter vom Speicher, ich habe in der Bibliothek einen netten Platz für Dich, kühl und schattig. Da kannst Du bleiben, solange Du willst und niemand wird Dich stören oder gar wegjagen." Nach einigem weiteren Locken tappte der Sinn hinter mir die Treppe hinunter ins Obergeschoß und folgte mir in die Bibliothek. Dort wohnt er jetzt. Er ist ein angenehmer Gast. Leise, ganz unaufdringlich sitzt er im Ohrensessel und schaut mich mit großen Augen an. Ich besuche ihn fast jeden Tag, bei Sonnenuntergang und dann sitzen wir beide am Fenster und schauen in die dämmernde Welt hinaus.
|
Doderer
Autoren
Kollegen Freunde