Mit Doderer durch Deutschland
Mit Doderer durch Deutschland (II) - Stuttgart
Geschrieben von Doderer am 22. Juni 2000 17:04:36
Stuttgart
hat etwas überaus Gründliches an sich. Außerdem liegt
Stuttgart im Kesselchen. Eine insgesamt eher provinzielle
Stadt, umgeben von Weinbergen. Liebliche Schläfrigkeit unter
einer südlich glühenden Sonne, in diesen Tagen.
Stuttgart hat aber auch Sensationelles zu bieten: z.B. einen
'Möbeltreffpunkt' ! Da kommt der Gast von auswärts ins
Sinnieren, wenn draußen vor dem Wagenfenster dieser ominöse
Treffpunkt vorbeizieht. Treffen sich dort Möbel und tauschen
Eindrücke aus? Über die Hintern ihrer Besitzer? Oder
plauschen Couchgarnituren sehnsuchtsvoll über neue Bezüge:
'Mein Federkern ist eigentlich noch topfit, nur haben die
Besitzerkinder mir den Rückenteil mit Schokolade versaut und
die Katze hat mir in die Polster geschissen, jetzt wollen
sie mich auf dem Sperrmüll aussetzen'. Werden dort furnierte
Schränke herablassend gemustert, von ihren vornehmeren
Kollegen aus Vollholz?
Es gibt in Stuttgart aber auch die Martin Schleyer-Halle
(letztendlich hat euch braven Stuttgartern der böse Geist
des Terrorismus dieses herrliche Bauwerk beschert, in
Stuttgart wendet sich eben wirklich alles zum Ordentlichen!)
und ein gut gepflegtes Fußballstadion (auch ein Gezeltle als
Überdachung, wie beim Münchner Olympiastadion, nur deutlich
biederer und bestimmt seriöser in der Ausführung) sowie am
Bahnhof eine für Bahnhofsbegriffe wirklich exzellente
Buchhandlung.
Merkwürdigerweise sind die Bahnhofsbuchandlungen überall von
weitaus besserer Qualität als die Flughafenbuchhandlungen.
Wie karg ist das Bücherangebot vor dem Abflug! Beim Fliegen
soll man offenbar nur Rosamunde Pilcher lesen, oder die
kostenlosen Zeitschriften, hauptsächlich Tageszeitungen und
Wichtigtuereien ökonomischer Art. Im Zug dagegen kann man,
nach dem Besuch der dortigen Buchhandlung, auch dem
Verhältnis Nietzsches zum Nationalsozialismus (höchst
ambivalent, das!) nachspüren, wieder mal in Herrmann Hesses
Gedichten schmalzen oder sich über Wittgensteins Jugend
informieren. Im Flugzeug gibt's an kulturellem höchstens die
‚Zeit', aber auch nur, damit die ‚on board' schneller
vergeht.
Vermutlich sollen, der Spritersparnis wegen, in Flugzeugen
schwere Gedanken überhaupt vermieden werden.
Geschrieben von madonna am 22. Juni 2000 21:26:25: Als
Antwort auf: Mit Doderer durch Deutschland (II) - Stuttgart
geschrieben von Doderer am 22. Juni 2000 17:04:36
Dank Dir,
lieber Doderer,
... bekommen wir endlich unsere wöchentliche Reisekolumne.
Reiseliteratur gehört in jedes Bücherbord , und wie viele
berühmte Reisende hat es nicht schon gegeben! Wenn ich
anfinge sie aufzuzählen, hagelte es Proteste ohne Ende, weil
ich diese(n) oder jene(n) vergessen hätte...
Gulliver... er kam mir sofort in den Sinn , als ich in
Deinem Berliner Tagebuch von den gelben Männchen mit den
Grünen Hüten und ihren Pistolen las. Dazwischen der
sportgestählte Held...(wie viel Prozent Körperfett war es
noch gleich?) v. Doderer, der alle möglichen Abenteuer
bestand in dieser seltsamen Hauptstadt.
Die Stuttgarter und ihre Stadt haben auf Dich wohl nicht im
mindesten einen ähnlich starken Eindruck gemacht... die
Langeweile packt sogar beim zu Lesen zu, obwohl Du selbst
die Langeweile unnachahmlich verpackst. Dabei, wenn ich den
Erzählungen meines Mannes trauen darf (er stammt von dort) ,
gibt es in Stuttgart Kultur... und nicht nur in der
Bahnhofsbuchhandlung. Die Mineralbäder sind sicher keine
Stuttgarter Erfindung, aber ein Badekultur ist auch Kultur.
Im vergangenen Jahr verbrachte ich ein Wochenende in dieser
oft geschmähten Stadt und hatte eine Offenbarung. Im
Stuttgarter Schauspiel gab es eine Soirée von Ingeborg
Bachmanns "Undine geht". Ich kannte den Text bis dahin noch
nicht und war total hingerissen davon, und er wirkt noch
immer nach. Schier unglaublich noch, dass man in diesem
Ländle der Sparsamen Gratisaufführungen wie diese anbietet.
-
Kürzlich sah ich im Fernsehen einen Bericht über den "Ring
des Nibelungen" aus der Stuttgarter Oper und war fasziniert,
obwohl ich eigentlich keine Opernanhängerin bin. Endlich
einmal fand ich zu diesen Figuren einen zeitgemäßen
Zugang... liebend gern würde ich nach Stuttgart reisen um
diese Aufführung zu sehen....
Nun ja, wenn man so wie Du auf Reisen ist ... früh hin
..abends zurück, dann bleiben einem solche Eindrücke
natürlich verwehrt. Falls Du mal wieder hinkommst, versprich
mir, die Buchhandlung Wendelin Niedlich zu besuchen... sie
ist einzigartig. Nicht mehr an ihrem früheren Platz in der
Stadt, sondern jetzt im Foyer des Schauspiels (gleich
gegenüber vom Bahnhof) ist sie nur abends kurz vor der
Aufführung und bis zum Ende geöffnet. Ich hoffe es gibt sie
noch, denn dort findest Du Bücher, nach denen Du woanders
umsonst suchst, von denen Du nicht mal weißt das es sie
gibt.
Wohin geht es denn nächste Woche... fragt sehr gespannt....
madonna
Geschrieben von doderer am 22. Juni 2000 21:52:55: Als
Antwort auf: Re: Mit Doderer durch Deutschland (II) -
Stuttgart geschrieben von madonna am 22. Juni 2000 21:26:25
Hallo
Madonna - neien neien und abermals neien ! Ich hab überhaupt
nichts gegen stuttgart - die bezeichnung der stadt als
provinziell kam von dem freundlichen menschen aus stuttgart
der mich nach getaner arbeit zum bahnhof fuhr. es wäre ja
auch zu öde, in dieselbe kerbe zu hauen wie all die
unzähligen kerbenhauer vor mir !
stuttgart ist eine schöne, äh, stadt in herrlicher gegend
und sogar schon die bahnhofsbuchhandlung ist besser als
anderswo die üblichen Handlungen! Wie wird da erst eine für
stuttgarter begriffe 'gute' buchhandung aussehen ! Ich würde
darin verarmen und alle meine rohe körperkraft brauchen, um
das erstandene bücherpaket auch nur hinter mir her zu
schleppen! (14 prozent waren es um deine frage zu
beantworten.) Meine reiseimpressionen sind rein subjektive
eindrücke, die ich in ihrer verarbeitung kräftig weiter zu
subjektivieren und zu entsinnen versuche, sie besagen gar
nichts über die besuchte stadt, die nur als anregung für
meine schreibe dient dabei. Ich würde z.B 34,7 mal lieber in
stuttgart leben, als in berlin! auch wenn mich in der
hauptstadt glutäugige iranerinnen von hier nach da brachten
und in stuttgart nur ein gestandener schwäbling! Meinem
Gulliver hätte Berlin natürlich besser gefallen, aber exotik
ist nicht alles! vor allem nicht wenn man ins gesetzte alter
kommt.
bis später jetzt heißts die hunde füttern [...]
Danke für dein Lob, wenn es denn eines war- demnächst gibts
was über hamburg
vonhiernachda doderer
Am
23. Juni 2000 um 22:11:34 meldet sich ein ghg zu Wort
hier möchte
ich mal guten abend sagen und mich, auch im namen der
schönen schwäbin, für ihre reiseberichte bedanken. sehr
angenehm zu lesen, was ihnen so alles passiert. übrigens
wussten sie, dass es eine spezies (männer nehm ich mal an)
gibt, die in berlin ständig im sog von staaaaaatskonvois
reisen? bei mir fing das mit elf an.
ganz anders die färbung im stuttgartbericht. das atmet
schwaben, wie sie da wohlgeordnet und stressless der
geilsten bahnhofsbuchhandlung der hemisphäre entgegen
rollen.
auch ich reise, noch immer fasziniert, ab und an in die
gegend. da wo die durch die täler aus stuttgart ziehenden,
dann ankommen. dort erzählte mir ein frischpensionierter
folgendes:
VORSICHT WAHR!
er freue sich, eine in früher jugend abgeschlossene
minimallebensversicherung nun, aus anlass der altersruhe,
entgegenzunehmen, um sie auf ein vorsorgekonto für den
eigenen beerdigungsfall einzuzahlen. der ja sicher eintritt.
fixkosten eben.
herr vonhiernachda Doderer, so versichert der schwabe sein
leben. ich war beeindruckt.
schönes wochenende ghg
Am
25. Juni 2000 21:35:50 schreibt Pamina mit bezug auf die
mail von ghg am 23. Juni an Doderer
guten abend,
doderer,
dieser tage viel auf reisen, nicht gerade hin- und her, auch
nicht kreuz- und quer, dennoch der eindrücke viel gesammelt.
hab mich auf den dieswochenendlichen feierlichkeiten
immerhin tadellos betragen und meine finger von den platten
gelassen. wollte schließlich keinen schlechten eindruck
hinterlassen, schon gar nicht in verwachsenen
hinterhofgärten, die von lustigem völkchen jeglicher couleur
besucht werden.
stuttgart..., das ist lange her, aber immerhin erinnere ich
mich an eine (schon wieder) feierlichkeit, die im haus der
architekten stattfand und den weg dahin, daran erinnere ich
mich auch noch gut. es ging eine ziemliche strecke über
treppchen bergauf und im stockfinsteren wieder hinab. mit
parkplätzen siehts auch zappenduster dort aus, also ich
fands trotzdem nett. außerdem habe ich auch die s.-er
landesbibliothek von innen kennengelernt, das opernhaus (hänsel
und gretel) und im zentrum bin ich auch gelustwandelt.
allerdings schreckte mich die geradlinigkeit des
schwabenvölkchens ein wenig ab. kurios, ich habe ja zwei
meiner jüngsten jahre in jenen gefilden verbracht
(Sigmaringen) und bin laut ohrenzeugenberichten schon dem
heimischen dialekt zum opfer gefallen, was sich allerdings
durch die relative kürze des aufenthalts im dunkel der
geschichte verloren hat (ha noi...).
ach übrigens, bevor ich es vergesse. ich habe per zufall
entdeckt, daß es eine DODERER-GESELLSCHAFT gibt. wäre das
nichts für dich??
und die maultaschen..., aber dafür wars ja wohl zu heiß.
da bei mir keine nennenswerte reise ansteht, im moment, habe
ich überlegt, ob ich meine eindrücke von der heimat der
kapernbüsche zum besten geben soll, das ist allerdings schon
etwas her (hat mich aber nachhaltig beeindruckt), aber mir
gefällt der gedanke der reiseberichte so gut. der herr baron
von riedesel war ja auch schon dort und hat seine eindrücke
geschildert, überhaupt hat mich schon früh der herr sterne
mit seiner "sentimental journey trough france and italy"
inspiriert. nicht daß ich etwa in der lage wäre, solcherart
reiseberichte zu schreiben, das ganze würde bei mir etwas
weniger dem allgemeinen interesse zugewandt ausfallen, aber
es ergeben sich ja für die schreiberin selbst ganz neue
aspekte der betrachtung.
[...]
bis bald und mit herzlichen grüßen
Pamina
Doderer antwortet am 26. Juni 2000 11:36:24 an Pamina:
hallo
Pamina,
gib deine eindrücke wieder ! kapernbüsche, das klingt
verlockend. ich bin schon sehr gespannt.
Mit der doderer - gesellschaft ist das ja so ein ding - ich
selbst bin derzeit ja in bester doderer-gesellschaft,
nämlich in der meinen, ob da andere gesellschafter zu meiner
zufriedenheit mithalten könnten, ist fraglich, ab dem 100ten
lebensjahr wird man recht eigen.
hänsel und gretel sah ich auch - als zarter knabe von 7 oder
8 - aber das war in einem anderen zeitalter. sigmaringen,
kenne ich, ich hoffe du warst auch einmal in tübingen, wo
hölderlin im turm saß, ein schönes kleines
universitätsstädtchen, gut für eine entspannte sommerwoche
mit spaziergängen, stadtfesten und weinproben.
[...]
lass es dir gut gehen
mit den besten wünschen erhebt segnend seine greisenhände
doderer
Am
27. Juni 2000 15:20:31 antwortet Doderer auch ghg:
Hallo ghg,
erst mal: danke für die bleameln,
ich hab derzeit wirklich viel um die ohren, deswegen die
ungewohnt lange reaktionszeit. die schwäbische episode ist,
ob wahr oder gut erfunden, einfach köstlich, treffender
könnte man bestimmte züge der schwabenmentalität gar nicht
charakterisieren- es finden sich auch in hegels werk unter
dem ganzen begrifflichen apparatismus solche schwäbisch
kleinbürgerlichen gediegenheiten, ich muß mal kucken, ob ich
die noch finde, in meinen aufzeichnungen aus einem früheren
leben.
männer, die im sog von staatskonvois reisen, das klingt
interessant! erzählen sie mehr darüber ! sie halten mit
vielen interresanten themen hinterm busch - wird das dem
opus magnum vorbehalten?
jetzt steht ihr konterfeit im fremdkörper - ghg, wie kamen
sie ausgerechnet auf dieses bild? sie wirken da so gehetzt,
wie nach kalten duschen, andrerseits natürlich auch voll auf
dem laufenden. Lustig anzusehen ist es allemal.
So - morgen gehts wieder in die deutsche metropole, nächste
woche ist münchen dran, im flugzeug zurück werde ich wieder
einen reisebericht verfassen. Ihnen und der schönen schwäbin
alles erdenklich gute, dasselbe natürlich auch allen übrigen
blaupausen.
Am
27. Juni 2000 21:55:00 antwortet ghg
guten abend
verehrtester
bleameln ;-) hat mein vater auch immer gesagt. die
aufzeichnungen aus einem früheren leben, wecken meine
neugier, die mal kurz gedöst hat. (ihr läuft dann immer ein
wenig eifergeifer aus dem mundwinkel.)
die männer hinter staatskonvois könnten einen thema sein,
das netz erspart uns jetzt biografische details, ich bin zu
faul, sie zu nerven.
kofferträger, mikrofonrichter, paladine und passanten, die
im zentrum des interesses stehen, welches ihnen nicht gilt.
faszinierend. das wäre ein federtusch im figurbild des
wenderomans auf den alle warten (hä?), weil ich ihn noch
nicht geschrieben habe. aua. "gera-eine provinzwende-Roman
der Feigheit" damit würde man höchstens hundert leute in der
100000 einwohner stadt beleidigen.
leider ist das thema angebraucht. zumindest nimmt mir
brussig "helden wie wir"
eine kernstrang weg: den pionier vorm honecker. das hätte
ich schöner geschrieben! ausserdem gibt es da einen film,
vom mann der immer überall auf fotos von prims und proms
erscheint. oder ist das wahr? wissen sie das?
ossis landen gern auf solchen nearby stellen. glaubte ich
eine zeitlang.
-fuffzehn-
ich habe gerade mit der schönen schwäbin besprochen, das ich
diesen strang nicht erzählen werde. ist doch nicht nur
quatsch das geschreibe hier.
ja sie sahen es richtig, das portrait meiner wenigkeit ist
nach einer woche windduschen auf helgoland entstanden. gut
durchblutet, das alles.
und jetzt noch zur begegnung der zweiten art, die gestern
abend und heute, an den ufern des rhein und um eine
betonkröte herum, stattfand. ich hatte das ausserordentliche
vergnügen, die galionsfigur in reserve und den guten
bordgeist der sinnbade schiff, madonna, hier am rheinknie
kennenzulernen. tatsächlich ein erlebniss. doderer, man
saugt sich sein bis dahin nur aus strichen bestehendes bild
bunt. ich bin gar nicht zum denken gekommen, vor lauter
gucken und hören.
das mach ich erst noch und dann schreibe ich mal darüber.
auch für sie, die ich sie hiermit in die nacht entlasse und
ihnen die nötigen handbreiten luft unter ihnen, über
deutschland wünsche. und zeigen sie denen da in berlin und
sonst wo! immer druff! ihr ghg
p.s. die schöne schwäbin dankt warm, wie schöne schwäbinnen
sind, und grüsst zurück.
H. v. D.
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