Autoren  Kollegen  Freunde

Begegnungen der besonderen Art
Lyrik - Prosa - Virtuelles - Persönlichkeiten


Begegnung mit amygdala
alias Giselheid Schulz


ICH HABE MEINE TÜR

Kommentare  zum Gedicht  im Forum
text-fuer-text im Januar 2006

 

Dies ist ein schönes Beispiel dafür , wie sehr die Texte von Giselheid mit einander verbunden sind.
Auch in den Köpfen der Leser. Wenn man z.B. die  Kommentare Zum Prosatext mit einbezieht.

 


amygdala - Giselheid Schulz

Kommentarverlauf
zu SIE WOHNT IM DAVOR UND DANACH

amygdala bei tft

Kommentarverlauf
zu ICH HABE MEINE TÜR

Prosatext

dysdera u.a,

   



 
  29.01.2005
zur abwechslung einmal prosa von mir, tagebuchprosa, fast ein jahr alt.
vielleicht etwas für katharina, um mit meinem schreiben warm zu werden.





29.01.2005



Morgens im ICE von Göttingen nach Berlin. Mir gegenüber eine Frau mit
weinrotem Filzhut, Spitzenbluse, weinroter Strickjacke. Ca. fünfzig Jahre
alt, ungeschminkt. Gesichtszüge, die sich zu verhärten beginnen. Eine
Pietistin vom Lande? Rechts ein Handygespräch:"Ja, ich sitze im Zug.
Keller? Ja, Keller.". Ein stinkender Schaffner. Links ein blaßrosa
Blondchen fotografiert, kreischt, kichert. Eine Baseballkappe spricht von
Fisch aus Helgoland. Ein bayrischer Baß bemerkt am Mobiltelefon: "Ich habe
meinen Sägemeister dabei." Ein studentischer Rollkragenpulli beißt ins
Frühstücksbrot. Der Filzhut lehnt sich weit in den Gang und guckt.
Bahnhof Braunschweig. Fahrgastwechsel. Ich muß hier raus, drängelt eine
Frau im Cordanzug. Ein rechteckiger Mund und ein Spitzmund steigen ein.
Der Filzhut streicht sich über die Lippen. Vor mir sitzt jetzt ein Mann
mit faltiger Glatze. Elf Falten auf dem Hinterkopf. Und wieder der
stinkende Schaffner.
Eine lange dünne Nase sagt "Prost!". Der Filzhut lacht mit großen Zähnen.
Ein Vogelgesicht schaut aus dem Fenster und spricht von früher.

Berlin Zoo. Weiter mit der S-Bahn bis Lehrter Bahnhof. Zu Fuß die
Invalidenstraße entlang zum Museum "Hamburger Bahnhof".
"Flick-Ausstellung". Der Einlaß:" Die Thermoskanne lassen Sie aber in der
Tasche!". "Ja".

Installation "Schöpfungsmythos": Metallgestänge, Plastikeimer, ein
ausgestopftes Schaffell, Styroporhocker in Wirbelkörperform, Schrotteile,
Videofilme, Großbuchstaben auf Gipskarton, Grünpflanzenfotos. Holzscheite,
mit bunten Bildern beklebt und aufgestapelt wie Kaminholz. Bilderholz,
Bilderscheite.

Ein Flügel in einem seperaten Raum. Angeschlossen an einen Computer. Ohne
Pianist erklingt ein Ton oder ein Akkord pro Minute. Die Wände des Raums
sind mit den dazugehörigen Partiturseiten versehen. Eingerahmt und hinter
Glas. Vermerkt dazu Uhrzeit der zu spielenden Seite. Rot unterlegt die
wenigen Partien der Töne zwischen den langen taktübergreifenden Pausen.

Dunkel. Halbwachsätze an die Wand projeziert: "Wie lang ist der Nil? Gibt
es zuviel des Guten?". Ich laufe durch den Wachtraum, laufe durch den Raum
in den nächsten.
Sternenpunkte überall, am Boden, an der Decke, an den Wänden. Sie bewegen
sich auf den Betrachter zu und wieder weg. Ich gehe zwischen hängenden
hauchdünnen Stoffbahnen durch das Sternenbild. Jetzt erscheint ein Ohr an
der Decke, ein Mund mitten im Raum.

Halle vier. Oben in der Ecke die Schrift: "Hier und jetzt zufrieden sein".
Ein wandfüllendes Foto. Bunte mannshohe Skulpturen. Und überall Menschen.
Gruppen, Paare, Einzelne. AudiogeführteBesucher, interessierte, bemühte
und müde. Und alle paar Meter Wachmänner. Ihre Blicke und ihre Beine gehen
die immer gleichen Bahnen. Sie sehen die Kunstwerke und sehen sie doch
nicht. Sie gehen ein paar Schritte vor und wieder zurück, gähnen und
streichen sich die Haare aus der Stirn. Sie lassen die Komposition im Raum
ins Absurde kippen. Und sie fliehen vor meinem Blick durch die kleine
Handykamera.
Mitten in der Halle Spiegelgänge. Ich summe:" Ein Männlein steht in einer
Galerie..." - nein, nicht ein Männlein, zwei Männlein, drei Männlein, vier
Männlein, vervielfacht durch die Spiegel.

In fast jedem Raum als grüne oder rote Farbtupfer "Living Katalogs", junge
Leute in T-Shirts mit diesem Schriftzug auf dem Rücken. Auf der
Vorderseite lese ich "Live Speaker sprechen Sie mit mir über Kunst".
Lebende Kunst zwischen den feststehenden Werken, im Gespräch mit diesen
und den Besuchern. Mehr und mehr achte ich auf Situationen, wechsel
Blickwinkel, Perspektiven, halte mit der Kamera fest. Und komme mit einer
der "Living-Katalogs" ins Gespräch.

Die leisen Bilder bleiben. Casting-Portraitfotos in schwarz-weiß. Bäume
kopfüber aufgehängt.
"Heimat", wo ein Wasserhahn ist, Sofakissen, ein Bett, eine Tür.

Und wieder draußen. Die Thermoskanne immer noch in der Tasche. Ich hätt‘
sie dazustellen sollen, als schöpferischen Akt zur Schöpfungsskulptur.
Jetzt ist es zu spät.

Im ICE von Berlin nach Göttingen.
Im Abteil mit mir zwei Männer und eine Frau. Wortlos. Ein junge Blondine
tritt ein, setzt sich, greift zum Handy. Spricht von ihrer Moderation
einer Morgensendung im Radio. Sitzt dann stumm mit "Gala" und "Petra" am
Platz. Fischt salzige Heringe aus der Tüte und schiebt sie ins pinkfarbene
Mäulchen.
Der ältere Herr neben mir lernt Englisch, Lektion drei. Die andern dösen.
Schrebergärten eilen vorbei. Auf einer Laube bunte Plastikstühle, liegend
und stehend. Um das Häuschen all möglicher Krimskram verteilt – eine
unfreiwillige Installation, wirkliche Alltagskunst, alltägliche
Wirklichkeit.
Ich hole meinen Tee aus der Tasche, dazu "Mein Name sei Gantenbein" und
lese.

© Giselheid J.Schulz 2005




15.01.2006, 00:38 Beitrag: #2
atemholz


Re: 29.01.2005
" Fischt
salzige Heringe aus der Tüte und schiebt sie ins pinkfarbene Mäulchen."


Diesen Satz finde ich herrlich! Könnte gut den Abschluss bilden.

Außerdem angenehm, mal etwas von "draußen" zu lesen, komme nämlich zur
Zeit einfach nicht weg hier!

Lieben Gruß. Johanna



15.01.2006, 09:47 Beitrag: #3
katharina


Re: 29.01.2005
Hallo Amy,

ich denke bei diesem Text an dein Gedicht mit der Tür im Raum, denn diese
Tür im Raum wäre ja (überführt ins Dingliche) auch so ein Exponat, an dem
jemand wie dieses Ich in diesem Text vorbeigehen könnte, wie ich an deinem
Gedicht vorbei gegangen bin und mich beschwert habe, dass es nichts hat
von dem, das ich (Mein Name sei Andrea) aus meiner Wirklichkeit kenne. Die
Wärme bleibt in der Thermoskanne, die Thermoskanne in der Tasche.

A wie angeregt,
Andrea



15.01.2006
amygdala


Re: 29.01.2005
hallo am sonntagmittag! so hat mein tagebuchtext schon ein paar leser
gefunden.

atemholz, das ist ein erlebnis vom letzten januar - doch ein teil der
ausstellung ist auch jetzt noch im "hamburger bahnhof zu sehen".

katharina (andrea), a, wie angeregt, das klingt gut ;-) b
ja, mein gedichttext mit der tür. ich schrieb ja schon dort, daß ich das
gern als rauminstallation machen würde. ich hab da auch noch andere ideen,
die menschliches miteinander symbolisch darstellen und auch erlebbar,
begehbar machen könnten...
und ich geh auch an vielem vorbei, das ist wohl das normale menschliche
filtern.

giselheid alias amygdala

 

Inhalt
Autoren  Kollegen  Freunde