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Begegnungen der besonderen Art 


 
  

Glyptothek



Wandere ich durch die Glyptothek meiner anerzogenen Bildung,
erblicke ich Marmor und Gips, der so tut, als schwelle er von Leben,
aber ich sehe kein Leben, sondern nur toten Kalk, manchmal auch Bronze,
und aus dem Winckel ruft ein kleiner Mann mir zu:
„Edle Einfalt, stille Größe!“,
doch meine Ohren sind verstopft, ich verstehe ihn nicht,
und er ist ja auch nur ein Rentner, der sich hier ein Zubrot verdient,
denn von 350 Euro im Monat lebt sich’s nicht gut.

Auch ich war in Arkadien und habe den klassischen Kontrapost
eingetrichtert bekommen als Inbegriff des ewig Schönen,
Standbein, Spielbein, jawoll, und der nette Hüftschwung des Doryphoros
das Gleichgewicht zwischen Spannung und Gelöstheit, von mir aus,
zwischen Schwere und Emporstreben, bitteschön,
dann diese meist gefällig geneigten Köpfe,
ach, lasst mich in Ruh, es ist kein Staat damit zu machen!
Trügen sie doch wenigstens noch die fröhlichen Farben, mit denen sie angemalt waren!

Der weiße Marmor, der Grünspan der Bronzen, das alles ekelt mich an,
es war die Welt geiler Gymnasiallehrer, die uns an den Sack grapschten
und sich ihres klassischen Verhaltens auch noch rühmten.
Aber einen hatten wir, den muss ich ausnehmen. Seine Brauen
wuchsen ihm in die Augen. Wenn er lachte, schien ein Totenkopf zu lachen,
und auch aus Nasenlöchern und Ohren spross ihm der graue Draht.
Er nahm uns mit vor die Tore der Stadt, wo ein Lager aus den glorreichen Jahren
zu besichtigen war – mit Galgen zum Henken der Widerspenstigen,

dem Lazarett zum Totspritzen der Kranken und den Baracken,
die Obhut vortäuschten, das Sterben vor Hunger, Kälte und
Überarbeitung aber nur geringfügig verzögerten. Und das Tolle war:
Die Baracken waren nicht leer! Von draußen schon
hörte man die Bewohner seuf-, äch- und schluchzen, andere
sangen Kinderlieder wie „Alle meine Entlein“ oder
„Häschen in der Grube“, ja, ich erinnere mich, die Melodie
von „Guten Abend, gute Nacht!“ gesummt gehört zu haben. Wir wunderten uns und

fragten Herrn Fuß, wieso die bei Tage da drin waren, ob sie denn tagsüber
nicht zum Arbeitseinsatz an die zu bauende Flughafenpiste müssten?
„Nein, arbeitsfähig sind die nicht mehr,“ sagte Herr Fuß, „sie sind schon völlig versteift,
man hat sie hier zusammengetrieben und hebt sie in den Baracken auf
für den Fall, dass sie vielleicht mal wieder gebraucht werden.“ Damit schob er
den Riegel beiseite, mit dem der Zugang von außen versperrt war,
und ließ uns eintreten. Zunächst sahen wir nichts, hörten nur, jetzt lauter,
die Kakophonie aus Jammern, Stöhnen und Gesang, einer pfiff sogar, ich glaube,

es war „Mein Herr Marquis“ aus der Fledermaus ... Aber dann sahen wir sie im Dunkeln,
sie lagen übereinandergeworfen in den mehrstöckigen Holzalkoven,
vielen war ein Arm oder Bein abgebrochen, manchen auch die Nase,
die weißen Körper leuchteten schemenartig im wenigen Licht, das durch die Ritzen
der Bretterwände hereinfiel. Ich trat an einen heran, der im mittleren Bett lag.
Er weinte, ich fragte ihn, warum, er sagte, er habe eine so schöne Aufgabe gehabt,
habe als Wachsamkeit vor einer Ordensburg gestanden, und jetzt müsse er hier
unzugedeckt mit vielen völlig Bedeutungslosen zusammenliegen. Ich sah Tränen

seinen augensternlosen Augen entrollen, und weil der Kopf einer weiblichen Gestalt
über den oberen Bettrand ragte, fragte ich sie, warum sie mich so anstarre.
„Hast du nicht einen Stein dabei und kannst mir den Kopf abschlagen?“, wisperte sie.
„Ich stand als Harrende im Garten eines namhaften Politikers, der nachts
manchmal kam und sich vor mir einen herunterholte. Ich halt es hier nicht mehr aus!“
„Tut mir leid,“ sagte ich, „einen Stein hab ich nicht dabei, und ich weiß auch nicht,
ob erlaubt wäre, was Sie da von mir verlangen!“ Aber da spürte ich eine Hand
an meiner Schulter, es war die altersfleckige von Herrn Fuß, er gab mir

einen kleinen Hammer und nickte mich an mit einem ermutigenden,
ja, heiteren Lächeln von großer Ernsthaftigkeit.
Ich schaute die Harrende an: „Ich will Ihnen nicht weh tun!“, sagte ich,
aber sie schüttelte den Kopf: „Schlag zu! Ich bin völlig gefühllos!“
Da schlug ich zu, und die Scherben ihres Kopfes klirrten zu Boden,
auch die Wachsamkeit hab ich zertrümmert, die Mutterschaft,
die Erwartung, den Rächer, den Wager ... Und auch die anderen hatten Hämmerchen gekriegt
und waren schwer beschäftigt mit dem Zerschlagen von Äch-, Schluch- und Seufzenden,

wir wateten durch die rasselnden Scherben, und viel fehlte nicht,
so hätten wir im Zertepperungsrausch einander angegriffen,
doch Herr Fuß sammelte das Werkzeug schnell wieder ein,
wir verließen die Baracke, genossen die Stille auf dem Lagerhof,
Herr Fuß hieß uns antreten wie zum Appell und verteilte
Schaufeln an uns, erstaunlich, an was alles er gedacht hatte!
Auf sein Geheiß schwangen wir sie hoch empor und deklamierten:
„Wir schaufeln ein Grab in den Lüften, da liegt man nicht eng!“

 


© Quoth
 12.11.2010


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