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Heute Nacht kommen sie
Eduard fuhr nach Krogstedt, weil er's Emil
versprochen hatte, in die krebskalte Hand versprochen, dass er Vilma nicht
allein lassen würde, wenn's bei ihr ans Sterben ginge.
"Du weißt, dass sie in Krogstedt keine Freunde hat. Sie fühlt sich als
Großstädterin, mithin als etwas Besseres, und das spüren die Krogstedter und
lassen's sie entgelten. Sorge dafür, dass sie eine Grabstelle auf dem
Ohlsdorfer Friedhof bekommt. Sie hat immer gesagt, hier wolle sie nicht
begraben sein..."
Eduard hatte es ihm versprochen. Wenig später durchbrach schwarze Galle
Emils Luftröhre und er ertrank darin, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf
dem Trockenen.
Deshalb fuhr er nach Krogstedt, obgleich er's einmal verlassen hatte mit dem
Vorsatz, nie zurückzukehren. Der dieselgetriebene Schienenbus durchknatterte
die nassen Weiden, auf denen die Stierherden wie versteinert standen in den
Lachen, die der unendliche Regen hinterlassen hatte. Der Waggon wankte, und
die Zeitungen der lesenden Passagiere blähten sich wie Segel im Wind.
Vilma hatte gejammert, schlimmer als sonst, hatte von Erblinden und Ertauben
gesprochen, auch von Atemnot und ständigem Verschlucken. Vielleicht waren
dies die Vorzeichen. Das Risiko, dass es mit dem Sterben doch noch nicht so
weit war, musste er eingehen. Das andere, zu spät zu kommen, erschien ihm
größer.
Um sich jederzeit umentscheiden zu können, hatte er seinen Besuch nicht
angekündigt. Ihm ging's nicht darum, Vilma zu überraschen, einzig um seine
eigene Freiheit.
So war er auch nicht erstaunt, als er sie nicht antraf. Trotz mehrmaligen
Drückens auf den Klingelknopf blieb die Gegensprechanlage stumm.
Wahrscheinlich war sie einkaufen. Oder - er sah auf die Uhr, es war 17.24 -
sie trank bei Golde, ihrer Freundin, Tee mit Kirschblütenaroma. Sie fand
nichtaromatisierten Tee ekelhaft. Er überlegte, ob er zur Klosterstraße
gehen oder mit dem Taxi fahren sollte, um sie dort aufzuspüren.
Aber dann verließ ein Südländer mit einer grauen Wollkappe das Haus - und er
schlüpfte hinein.
Was hatte sie bloß veranlasst, in dieses grässliche Mietshaus zu ziehen? Die
Wände weißblau gekachelt, ähnelte's eher einem Schlachthaus als einem
Wohnort. Alles war von aseptischer Reinheit, jedes kleine Schrittgeräusch
echote aus allen Richtungen zurück und ergab ein abflauendes Rauschen. Er
rannte die Treppen zum 4. Stock hinauf.
Der Grund für ihren Herzug war einmal gewesen, dass sie die Wohnung, in der
sie zu vieles an Emil erinnerte, verlassen wollte. Sie war auch zu groß
geworden. Ein weiterer Grund war: Sie wollte hoch wohnen. Auf Krogstedt
herabblicken können. Keine Luftnot haben. Und viel Licht.
Eduard stand vor der Tür mit dem Messingschild, in das der Namenszug
EISENPFLICHT tief eingegraben und mit schwarzem Lack ausgemalt war.
Blankgeputzt war's. Vilma konnte nicht weit fort sein. Er klingelte erneut,
aber eigentlich nur, um's nicht unversucht gelassen zu haben. Hier hörte er
das Läuten im Innern der Wohnung. Er legte das Ohr an die Tür. Es war
totenstill. Das konnte mehrerlei bedeuten. Sie konnte abwesend sein. Oder
schlafen. Oder gestürzt sein und unterkühlt und bewusstlos am Boden liegen.
Immer wieder las man in der Zeitung von schon halb mumifizierten Rentnern
und Rentnerinnen, die in ihren Wohnungen gefunden wurden
Eduard musterte die Namensschilder der anderen Türen. Eines war darunter,
das ihm bekannt vorkam. Hatte Vilma nicht erzählt, dass in ihrer Abwesenheit
eine Frau Grewe die Blumen goss?
Er klingelte an der Tür, auf der GREWE stand. Eine junge Frau öffnete und
streckte ihm einen Schlüssel entgegen. Sie lachte ihn an, das Gebiss zur
Abwehr entblößend. Im Zimmer hinter ihr schnauzte ein Mann einen Hund an,
der erbärmlich winselte. "Sie sind Eisenpflicht junior, nicht wahr?" sagte
sie. "Ihre Mutter hat gesagt, wenn Sie kämen, sollte ich Ihnen den Schlüssel
geben."
"Hat sie gesagt, wo sie hin ist?"
"Nein, aber sie hatte eine Reisetasche dabei."
"Aber woher wusste sie, dass ich komme?"
Die junge Frau zuckte die Schultern und sah ihn hilflos an.
Eduard bedankte sich und saß schon kurz darauf in Vilmas Wohnzimmer bei
einer Flasche guten Rieslings, den er in der Speisekammer gefunden hatte,
und schaute über die rotzieglige Stadt, in der er aufgewachsen war.
Hier kannte er jeden Baum und jeden Strauch, jede Straßenecke und jeden
Gullydeckel. Ein wohliges Gefühl von Geborgenheit wollte sich in ihm
breitmachen, aber er wies es ab. Er wollte nicht wieder Wurzeln schlagen
hier. Vielleicht später einmal, wenn er das heutige Alter Vilmas erreichte.
Dann bemerkte er einen üblen Geruch. Er kam aus der Küche, wo er im
Mülleimer Fleischabfälle entdeckte, die dort verfaulten. Ein Schwarm Fliegen
flog davon auf.
Er wunderte sich, weil Vilma vor jeder Reise abergläubisch allen Müll
entsorgte. Was hatte sie zu diesem überhasteten Aufbruch gedrängt?
Er riss den Inneneimer heraus und lief die Treppen hinunter durchs blauweiß
gekachelte Treppenhaus, in dem seine Schritte platschten und rauschten.
An der Haustür schob er die Fußmatte zwischen, damit sie nicht zufallen
konnte.
Und bereits hier fiel ihm ein, dass er dasselbe an Vilmas Etagentür versäumt
hatte. Kurz darauf stand er mit dem geleerten Eimer an der zugefallenen Tür
und kühlte die heiße Stirn an dem Messingschild, indem er sie fest dagegen
presste.
"Ich Idiot, ich dreifacher, hirnrissiger Idiot!" Er beschimpfte sich in noch
saftigeren Ausdrucken, aber davon ging die Tür nicht auf.
Eine Nachfrage bei Frau Grewe ergab, dass sie einen weiteren Schlüssel nicht
hatte. Sie gab ihm die Adresse des Schlüsseldienstes am Markt. Warum hatte
er sie nicht gefragt, ob er von ihr aus dort anrufen konnte? Er wagte nicht
noch einmal zu klingeln, sondern ging hin. Er fror gottserbärmlich in dem
dünnen und löchrigen Pullover, den er in Ermangelung eines besseren am
Morgen achtlos übergestreift.
"Guten Tag, Herr Eisenpflicht," sagte die Schlossersfrau. Sie schien zu
schielen, denn sie sah mit ihren wässrigen Blauaugen immer auf seine Stirn.
"Was kann ich für Sie tun?"
Eduard schilderte seine Notlage, die Schlossersfrau, die früher im
Fischgeschäft bedient hatte, er erinnerte sich an sie, hörte ihm, unwirscher
und unwirscher werdend, zu.
"Können Sie sich ausweisen?" fragte sie.
"Die Papiere sind in meiner Brieftasche, und die steckt in meiner
Lederjacke, die in der Wohnung meiner Mutter an der Garderobe hängt."
"Ohne Ausweis kann ich Ihnen die Tür nicht öffnen," sagte die Schlossersfrau.
"Da könnte jeder kommen."
"Aber Sie haben mich doch vorhin selbst erkannt und mit Namen angeredet!"
"Der Name steht in Spiegelschrift an Ihrer Stirn, mein Herr. Das beweist gar
nichts. Nein, ich kann Ihnen unmöglich aufmachen."
"Aber ich bin Eduard Eisenpflicht! Erinnern Sie sich nicht noch, wie Sie im
Fischgeschäft verkauft haben und wie ich Schellfisch oder saure Heringe oder
Bücklinge bei Ihnen holen kam? So ein blonder Hosenmatz?"
"Blonde Hosenmätze gibt's wie Sand am Meer. Und im Fischgeschäft hab ich nie
bedient. Nein, wissen Sie, Frau Eisenpflicht ist mir gut bekannt. Sie hat
jüngst noch alle Schlösser von uns überprüfen und reparieren lassen. Und bei
dieser Gelegenheit hat sie mir auch von ihrem Sohn erzählt. Er lebe in
besten Verhältnissen in der Schweiz als Kaufmann, Unternehmer und
wohlhabender Finanzier. Der würde hier nicht wie ein Bettler vor mir stehen
- in einer zerschlissenen Jeans und einem Pullover, von dem die Motten nicht
viel übrig gelassen haben! Erzählen Sie mir nichts - und seien Sie froh,
wenn ich nicht die Polizei rufe!"
Ich stolperte hinaus. Ich fühlte mich wie ausgehöhlt, verlassen und
entkernt. Wer war ich, wenn ich nicht Eduard Eisenpflicht war? Mir war klar,
dass Vilma wenig Grund hatte, stolz auf mich zu sein. Ich hatte es nur zum
Hilfsbibliothekar gebracht, allerdings in der hochangesehenen Bibliothek
einer verfallenen alten Stadt am Rhein.
Aber was sollte diese Protzerei mit einer Lebensstellung, zu der's nicht
gebracht zu haben ich keinen Augenblick bedauerte? Ich fühlte mich verraten
und verkauft. Das war nicht wie eine Mutter gehandelt. Oder wenn doch, war
Mutterschaft identisch mit Verrat und Verbrechen.
Ich erinnerte mich an die Sache mit der Hündin. Ich war als Junge gehalten,
sie einmal täglich Gassi zu führen. Als ich es das dritte Mal vergessen
hatte und mit Ausreden kam, hatte Vilma das Tier mit einem Beil erschlagen.
"Du bist noch nicht reif für einen Hund," hatte sie gesagt.
Trotz der immer schärfer werdenden Kälte der hereinbrechenden Nacht ging ich
zur Klosterstraße und fragte nach Golde Meyer.
Sie sei tot, wurde mir in der Arztpraxis gesagt, über der sie gewohnt hatte.
Im Hotel Stadt Hamburg lehnte man's ab, mich als Übernachtungsgast
aufzunehmen. Gäste ohne Gepäck würden grundsätzlich nur gegen Vorauskasse
willkommen geheißen. Mein Portemonnaie samt Kreditkarte war aber auch in der
Lederjacke.
Als ich an der Darleihbank vorbeikam, hörte ich aus den Kellern ein leises
Brummen wie von ratlosen Rindern. Kehrte die Landwirtschaft nach Krogstedt
zurück? Ich erinnerte mich gut, wie in meiner Kindheit noch Hühner und
Schweine die Straßen bevölkerten, erinnerte mich an die von Stieren
gezogenen Karren der Flüchtlinge, hochbepackt mit Bettzeug und Mobiliar.
Aus dem vergitterten Lager der Eisenhandlung sang es langgezogen und
wehmütig. Ich verstand die Sprache nicht. Männerstimmen, rauh, und ein
Tenor, strahlend schwebte er darüber und besang eine "Smuglanka Moldovanka".
Lagen denn die russischen Zwangsarbeiter nicht längst, angeblich von Typhus
dahingerafft, im efeuüberwachsenen Massengrab auf dem Friedhof?
Mir blieb nichts anderes übrig, als die Nacht auf den Stufen vor Vilmas
Wohnung zu verbringen. Erneut hatte ein Südländer das Haus verlassen und ich
hatte mich einschleichen können. Auch er trug eine graue Wollkappe, dazu
aber eine langschäftige Axt auf der Schulter.
Zuerst saß ich direkt vor der Tür auf Vilmas Kokosfußmatte, in die WELCOME
eingewebt war. Als es dunkelte, zog ich auf die Treppe um, weil sich's dort
bequemer saß. Etwa gegen zehn hörte ich in Vilmas Wohnung das Telefon
klingeln. Das war die Zeit, zu der sie mich oft angerufen und mir vorgeklagt
hatte, sie wisse nicht, wozu sie einen Sohn habe usw. Nach achtfachem
Klingeln sprang der Anrufbeantworter an, er spulte Vilmas mir bekannten Text
ab, und dann - Vilmas Stimme, dumpf und laut: "Gib auf dich Acht, mein
Junge, gib auf dich Acht! Ich kann nicht auf dich achtgeben, bin allem
preisgegeben hier. Heute Nacht kommen sie..." Es knackte. Ende.
Wo war sie hingeraten? Woher rief sie an? War das Gespräch gewaltsam beendet
worden? Ich wollte mich sofort auf den Weg zur Polizei machen. Aber dann
gewann die Rachsucht die Oberhand, und ich sagte mir: "Sie hat dich
verraten. Jetzt verrätst du sie! Und wenn sie sie schlagen, treten, fesseln,
quälen - was ist das schon im Vergleich zu dem, was sie dir angetan hat?"
Und wer würde kommen? Und zu wem? Zu ihr oder zu mir?
Sobald's Bewegung im Haus gab, wurde die Treppenhausbeleuchtung angedrückt
und sprang mit einem lauten Knall an. Mehrfach schreckte ich von diesem
Knallen aus dem leichten Schlummer, der mich befiel wie eine Krätze, und
einige Male trafen mich Fußtritte von Leuten, die nicht schnell genug an mir
vorbei die Treppe hinab kommen konnten. Ich fror. Aber zu vorgerückter
Stunde ging hinter mir die Tür auf, und Frau Grewe warf mir eine alte Decke
zu. Sie stank erbärmlich nach Hund, aber ich war froh, sie mir über die
Schultern legen zu können.
Nachts schrak ich empor. Mir war, als hätte ich Schreien und lautes Weinen
gehört, und reuevoll regte sich der Wunsch in mir, nun doch die Polizei
einzuschalten. Aber dann hörte ich Getrappel vieler weicher Hufe und ein
dumpfes, tiefes Murren, zuerst schwach, dann immer stärker und das ganze
blauweiß gekachelte Treppenhaus erfüllend.
Wenig später sah ich Stiere die Treppen heraufkommen, mit wiegenden Köpfen
streckten sie das Gehörn vor, das Murren war zu einem heiseren Brüllen
angeschwollen, das wie ein Orkan durchs Treppenhaus fegte, sie peitschten
die Lenden mit den mächtigen Schweifen, und Südländer mit grauen Wollkappen
gingen in blauweiß gestreiften Wämsern zwischen ihnen einher, langschäftige
Äxte auf den Schultern.
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© Quoth
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