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Der Räuber von Inishark 

Ein irisches Gedicht

Wer ist der Räuber von Inishark?

Donegan!

Donegan?

Donegan!

Donegan ist mindestens fünf, höchstens neun Jahre alt. Genau weiß man das auf Inishark nicht, weil Inishark kein Standesamt hat. Aber ein Taufregister hat Inishark! Doch wer sieht schon in das Taufregister? Keiner sieht in das Taufregister, weil Father Flannery über das Taufregister wacht wie der Drache über den Schatz. Wer in das Taufregister schauen will, muss einen Guinea bezahlen. Also sieht keiner in das Taufregister.

Aber Donegans Vater, weiß Donegans Vater nicht, wie alt Donegan ist? Donegans Vater weiß, wie alt Donegan ist, doch wer kann Donegans Vater fragen? Keiner weiß, wer Donegans Vater ist, vielleicht hat ihn ein Walfisch verschluckt wie Jona? Vielleicht haben die Docks von New York ihn verschluckt wie viele seiner Brüder? Vielleicht handelt er mit Kartoffeln wie Gillooly, der Kartoffelhändler von Inishark? Oder weiß Father Flannery, wer Donegans Vater ist? Keiner weiß, wer Donegans Vater ist. Aber Donegans Vater weiß, wie alt Donegan ist.

Und Donegans Mutter, weiß Donegans Mutter nicht, wie alt Donegan ist? O, Donegans Mutter! Donegans Mutter weiß alles – und hat alles vergessen. Nur eins hat sie nicht vergessen: Dass es elf waren, elf Kinder, elf Väter und elf Apostel, die dem Herrn treu blieben, und seinen Leib küsst Donegans Mutter, wenn sie die Kirche von Inishark betritt. O, Donegans Mutter! Elf waren es, und eins von ihnen ist Donegan.

Was isst der Räuber von Inishark zu Mittag? Kartoffeln isst er, selbstgestohlene. selbstgebackene Kartoffeln aus dem Lager von Gillooly. Natürlich weiß Gillooly längst, dass Donegan ihm jede Woche einen Sack Kartoffeln stiehlt, aber was kann Gillooly mehr tun als sich einen Kettenhund halten? Soll er selbst die ganze Nacht um sein Lager laufen? Ohnehin denkt er nur an Kartoffeln, träumt nur von Kartoffeln, sein Kopf ist eine Kartoffel, sein Herz ist eine Kartoffel. Wenn Gillooly betet, und er betet oft, gibt es im Himmel Kartoffeln zu Mittag. Wie süß schmecken Gilloolys Kartoffeln!

Wie zähmt der Räuber von Inishark den Kettenhund Murray? Murray braucht nicht gezähmt zu werden, Murray leckt dem Räuber von Inishark Hände und Gesicht, denn nachts hat Murray Angst, er reißt an der Kette und jault, um die Nacht zu verjagen, aber die Nacht über Inishark ist lang, nur einen gibt es, der sie nicht fürchtet, das ist der Räuber von Inishark. Er kriecht zu Murray in die Hütte, und in den Armen von Donegan japst Murray vor Vergnügen und schläft, und bei Morgengrauen stiehlt der Räuber von Inishark einen Sack Kartoffeln.

Blech ist das Gold von Inishark, deshalb stiehlt der Räuber von Inishark alles, was aus Blech ist: Stücke vom Kirchendach, das aus Wellblech ist, Stücke von Autos aus lackiertem Blech, Dosen aus Weißblech und aus Schwarzblech, Wasserkessel aus Aluminiumblech, Eimer aus Zinkblech und Gardinenringe aus Messingblech, alles, was aus Blech ist, stiehlt Donegan, einen ganzen Schuppen voll Blech hat er, das ist sein Blechschuppen, die Schatzkammer des Räubers von Inishark.

Warum beklagt Father Flannery sich nicht, dass Donegan seinen Kirchturm abdeckt? Wie kommt es, dass Cloonan den Verlust des Eimers, der ihm als Kühlschrank diente, wortlos verschmerzt? Und Gillooly, warum holt er sich nicht wenigstens das Autowrack zurück, sein Erbstück? Die braven Bürger von Inishark, sie sollten Donegan übers Knie legen! Den Blechschuppen Donegans sollten sie kaputtschlagen! Warum tun sie es nicht, die braven Bürger von Inishark?

O, der Wind über Inishark ist stark! O, der Wind von Inishark! Er weht aus den Schlünden der Walfische, aus den Schlünden der Docks von New York über Inishark hinweg. Das Dach des Kirchturms weht er auf die Straße, Eimer rollt er auf die Straße, und sogar Stücke von alten Autos reißt er los und wirft sie auf die Straße von Inishark, auf der alles allen gehört. O, dieser Wind von Inishark!

Wie verplempert der Räuber von Inishark sein Geld? Blech bringt Geld, viel Geld, der Räuber von Inishark ist reich! Nur der Wirt weiß, wie Donegan sein Geld verplempert, nur Cloonan weiß, woher Donegans Mutter den Schnaps hat. Donegans Mutter liebt Cloonans Schnaps, sie liebt den Schnaps überhaupt. Wer alles weiß, liebt den Schnaps, der alles vergessen lässt, wer alles vergessen hat, liebt den Schnaps, der an alles erinnert. So sorgt der Räuber von Inishark für seine Mutter, so verplempert Donegan sein Geld.

Stiehlt der Räuber von Inishark auch am Sonntag? Am Sonntag liegt Murray in der Sonne platt wie eine Flunder. Am Sonntag bereut Gillooly seine Kartoffelsünden, die Father Flannery ihm vergibt, am Sonntag hockt Donegans Mutter auf der Straße und schwatzt von den elf Getreuen. Am Sonntag klettert der Räuber von Inishark auf seinen Blechschuppen, steigt Donegan auf seine Schatzkammer, der Räuber von Inishark ruft seine Insel, die Insel ohne Standesamt, die Insel unter dem Wind: "Inishark!"

Wer ist der Räuber von Inishark?

Donegan!

Donegan?

Donegan!

[Inishark wurde 1960 geräumt.]

 

© Quoth

 

 


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