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Die Sansculottiden
Sophie hat ihren Vater aus Frankreich zu sich geholt. Er war nicht
mehr imstande, alleine zu leben, und da sie sich für ihn verantwortlich
fühlte, durch den Arbeitsplatz ihres Mannes aber an Deutschland gebunden
war, sah sie keine andere Möglichkeit. Für Raoul war das natürlich eine
grausame Entwurzelung. Er sprach kaum noch ein Wort – außer seiner
Tochter verstand ihn hier ja ohnehin niemand – wurde inkontinent und
schaute immer grämlicher drein.
Die Pflege des Vaters überforderte Sophie in jeder Hinsicht, deshalb
wurde Aldona engagiert, und das war sein Glück. Aldona legte
Vinylschätzchen für ihn auf, radebrechte Französisch mit polnischem
Akzent, bemutterte ihn nach Strich und Faden und stopfte ihn mit Bigos
voll. Während er vorher das bayrische Kraut mit Ekel von sich gewiesen
und Ratatouille und Pâté de foie verlangt hatte, konnte er von dem
weichgekochten Sauerkohl mit Fleisch nicht genug bekommen, und es
dauerte nicht lange, da konnte auf die Windel verzichtet werden. Raoul
wurde wieder ein Mensch und Mann, ja, ein Künstler, und Aldona war nicht
nur seine Pflegerin und Köchin, sondern auch seine Muse.
Raoul hatte für eine südfranzösische Zeitung als Lokalreporter
gearbeitet und hatte mir schon bei unserer ersten Begegnung stolz eine
Leica gezeigt, die in einem Wäldchen unweit Saint Marcellin im
Département Isère gefunden, dann gereinigt und wieder funktionstüchtig
gemacht worden war. Mit Sophie, seiner Tochter, hatte mich die Reiterei
zusammengeführt. Ich hatte, nachdem mein letztes Pferd gestorben war,
eine Reitbeteiligung an ihrem Wallach McHersh, wir saßen oft im
Reiterstübchen zusammen, Raoul Saillard war direkt darüber in einem
eigenen Zimmer mit Kochnische und Bad einquartiert. Er tat mir leid, und
deshalb hatte ich ihm einige Besuche abgestattet, noch bevor Aldona
angeheuert worden war.
Als ich am ersten Tag nach Weihnachten, den man hier auch den „dritten
Weihnachtsfeiertag“ nennt, zu ihm kam, saß Aldona splitternackt auf
einem Sideboard und hielt einen Messingleuchter mit brennender Kerze in
der Hand. Sie wollte sich mit dem Laken, auf dem sie saß, bedecken, aber
Saillard, der durch den Sucher seiner aufs Stativ gesetzten Leica
blickte, untersagte ihr das mit streng hervorgesprudeltem „Nonononon!“,
das Blitzlicht flammte auf, die Birne zerschmolz knisternd, Saillard
wies Aldona an, sich auf die andere Seite zu drehen und machte ein
weiteres Bild von ihr. Sie sei „la vertu“, erläuterte er, dies sei der
Tag der Tugend nach dem Revolutionskalender, wir befänden uns nämlich in
den Sansculottiden, jenen fünf Feiertagen, die übrig blieben, wenn man
das Jahr in zwölf Monate à 30 Tage einteile. Warum die Tugend nackt sei,
wollte ich wissen, aber Raoul schüttelte den Kopf und antwortete nicht.
Erst später, als Aldona uns eine Flasche 60%igen Wodka auf den Tisch
gepflanzt hatte, war er bereit, mir zu erklären, dass Tugend und Hure
identisch seien, denn die Hure diene der Tugend, indem sie Ehen rette
und Vergewaltigungen vorbeuge. So jedenfalls verstand ich mit meinen
lückenhaften Französischkenntnissen sein Gebrabbel. Im Stall traf ich
Sophie, die McHersh bewegt hatte. Sie lachte, als ich ihr erzählte, was
ich gesehen und gehört hatte, meinte, ihr Alter sei jetzt „complètement
fou“ geworden, er gehe ja auch auf die 100 zu, zog mich dann in eine
leer stehende Box und verhielt sich überaus tugendhaft.
Tags darauf stieg ich wieder ins Stübchen Saillards hinauf und traf ihn
bei Vorbereitungen für den „jour du génie“, den Tag des Geistes. Aldona,
wieder splitternackt, wurde auf einen Stapel Bücher gesetzt, bekam eine
Brille auf die Nase und musste so tun, als ob sie mit größtem Interesse
lese. Mit ihrem ergrauenden Haar, den reifen weiblichen Formen sah sie
wirklich aus wie eine Bibliothekarin, die vor Lesewut das Ankleiden
vergessen hatte. Einen Tag später war der „jour du travail“ an der
Reihe, Aldona trug einen Blaumann und sonst nichts, hielt aber eine
langstielige Axt in der Hand, was lebensgefährlich und bezaubernd
aussah. Und am „jour de l’opinion“ war sie von den Schultern bis zu den
Füßen mit nassen Zeitungsbögen beklebt, hielt in der Linken die
Trikolore, in der Rechten die Farben Polens, und auf dem alten
Plattenspieler rotierte die Polonaise fis-Moll von Chopin.
Ich hatte mich mit dem Revolutionskalender vertraut gemacht und
festgestellt, dass dieser die „Sansculottides“ wirklich vorsah,
allerdings wurden sie ab dem 17. September, dem 30. Fructidor, begangen
– auch „zwischen den Jahren“, wie man hier sagt, denn das
Revolutionsjahr begann pünktlich zum Herbstanfang mit dem 22. September,
dem 1. Vendémiaire. Jetzt fehlte nur noch der fünfte Tag, der „jour des
récompenses“, der Tag der Belohnungen. Ich war gespannt, wie Raoul ihn
gestalten würde und hatte Erlaubnis, erneut ins Zimmerchen
hinaufzusteigen. Aber ich kam zu spät, das Bild war schon im Kasten, auf
dem Tisch lag ein Baguette. Raoul zwinkerte mir zu und sagte „Nous avons
figuré le pain de récompense! Avec le déclencheur automatique!“ Zu
deutsch: „Wir haben das Gnadenbrot dargestellt! Mit dem Selbstauslöser!“
Als ich die Leica in die Hand nahm und respektvoll hin und her wendete,
wies er auf eine Stelle, an der die Initialen W M ins Gehäuse gekratzt
waren. Er fragte mich, ob ich mir denken könne, wem die Kamera einmal
gehört hätte. Ich verneinte, da raunte er mir hinter vorgehaltener Hand
zu: „Willi Munzenberg!“ „Der legendäre Kommunist, den Stalin in den Tod
gehetzt hat?“ Raoul nickte und strahlte. „C’est lui,“ sagte er, „c’est
lui! Vraiment! On l’a trouvé mort dans la forêt de Saint Marcellin!“
Stolz zeigte er mir Anfang Januar das Album mit dem Titel „Les
Sansculottides“. Er hatte die Fotos entwickeln und vergößern lassen und
in ein liniertes Schulheft geklebt. Am besten hatte ihm Aldona als
„vertu“ gefallen, denn davon gab es rund ein Dutzend Versionen, während
sie als „génie“ nur zehnmal, als „travail“ und „opinion“ nur dreimal
abgelichtet war. Vom Tag der „récompenses“ gab es nur ein Bild. Es
zeigte Raoul ebenso splitternackt wie Aldona, und diese schob ihm
ziemlich ruppig das Gnadenbrot in den zahnlosen Schlund. Das Heft ging
herum, erregte viel Heiterkeit und Entzücken, geriet aber auch in Hände,
in die es besser nicht geraten wäre. Aldona wurde abberufen und durch
einen sauren Engel von Betschwester ersetzt, der den Gegenstand seiner
Pflege schnellstens unter die Erde brachte.
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© Quoth
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