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Begegnungen der besonderen Art






 

Die Flammen


Ich weiß nicht, ob man es Liebe nennen kann. Doch, doch, es war Liebe.
Trifonows waren immerhin 25 Jahren verheiratet. Ob man bei solch elenden Kreaturen von „glücklich“ sprechen kann? Wohl kaum. Sie degenerierten gemeinsam und, ob man es nun Liebe nennt oder nicht: der Fall in die Tiefe band sie aneinander.
Sie waren wie zwei ermüdete Schwimmer, die sich aneinander klammern, bis sie gemeinsam untergehen.
Ich jedenfalls, kann meiner Ekelgefühle kaum Herr werden, wenn ich an sie denke und ihre Geschichte zu Papier bringe. Wie sie so werden konnten, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.
Früher waren wir alle so befreundet. Trifonows waren überall gern gesehene Gäste und originelle Gastgeber, sie pflegten wunderbare Konversation, sie waren Schauspieler und Maler, sie musizierten und rezitierten, die Kultur war ihre Heimat.

Wohl hörten sie irgendwann auf, gegen die Wogen des Lebens zu schwimmen und mit dem schwierigen Schicksal von Künstlern zu kämpfen, die ein gewisses Alter überschreiten, ohne dass sich die ersehnte Anerkennung und der finanzielle Halt einstellen. Sie ließen sich von den feindlichen Wassern mitreißen und lebten in Suff, Schmutz und Armut.

Wie erträgt man eigentlich Schmerzen?
Nun, es ist ja nicht so, dass die Krankheit einen gesunden Körper überfällt. Ein Körper wird krank, allmählich, und ist dann selbst diese Krankheit. Die Krankheit zu verneinen, bedeutet ab einem gewissen Punkt, sich selbst zu verneinen und das geht im Grunde nicht, weil man selbst die einzige Welt ist, die man kennt.
So wird einem Menschen die Welt zur Krankheit und er spricht mit den Schicksalsschwestern:
„Fair is foul, and foul is fair!”
Die Erniedrigung überfällt nicht einen stolzen, gesunden Menschen, sondern die Erniedrigung kommt schleichend einher mit einem besonderen Gift: nämlich der Blindheit für die Erniedrigung.

So lebten sie in einer grässlichen Müllhalde, einer stinkenden Mietwohnung, die nach einer Weile niemand mehr besuchte (außer mir, ab und zu).
Ihre Tochter Nina ist nach England ausgewandert (ich möchte fast sagen: geflohen) heiratete einen ordentlichen Menschen in London (meiner Meinung nach, ein nichtswürdiger Bourgeois) und entschloss sich leider dazu, ihr mehr als suspektes genetisches Erbgut in zwei Kindern zu materialisieren.

Das typische Ungeziefer hier bei uns in Moskau ist die Küchenschabe, wohingegen in St. Petersburg vor allem die Wanze anzutreffen ist.

Bei Marina und Jascha Trifonow wimmelte es, im wahrsten Sinne des Wortes, nur so von Kakerlaken. Sie liefen ihnen über ihre verquollenen Körper und Gesichter des Nachts. Zunächst waren es vor allem die kleinen braunen Tierchen. Doch jemand erzählte Jascha eines Tages, dass die großen schwarzen Kakerlaken, die kleinen Braunen auffressen. So nahm er einmal eine Schwarze in einer Streichholzschachtel mit und ließ sie in der Wohnung laufen. Leider stimmte die Geschichte nicht und fortan gab es beide Sorten. Auch habe ich dort einige durchsichtige Weiße gesehen. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um Albinos handelt, oder ob es eine eigene Rasse ist. Diese ungeliebten Mitbewohner lebten vor allem hinter dem Kühlschrank, der nicht funktionierte und in dem uralte Essensreste die wunderlichsten Blüten trieben.
Auch nisteten und brüteten die Kakerlaken gerne im Waschbecken. Besonders bedrückend war ihre Gegenwart, wenn sie Flügel bekamen und umherflogen. Trifonow vergiftete eher sich selbst und seine Frau mit der Bohrsäure, die überall verstreute. Einige Küchenschaben sind doch daran gestorben. Ich habe es einmal beobachtet:
Zum Sterben kommen sie aus ihren Verstecken, wie die Ratten bei Camus. Dann kann man fast beobachten, wie sie innerlich von dieser hochgiftigen Substanz zerfressen werden, sie wanken gequält hin und her und legen sich schließlich auf ihren Rücken. Noch zappeln sie mit den Beinchen und dann ist es aus. Übrig bleibt nur die Hülle, die immer knackt, wenn man sie zerdrückt.

Als Nina ihre Eltern letzten Sommer besuchen kam, nahm sie auch ihre Kinder mit. Der Junge war 13, das Mädchen 9 Jahre alt.
Das Ereignis wurde natürlich mit reichlich Wodka begangen und der Junge zeigte sich kein bisschen weibisch in dieser Hinsicht, was seinen Großvater mit Stolz erfüllte.
Jascha saß dann bei seinem Glas und machte mit den Armen Bewegungen, als ob er große Fliegen zu verscheuchen suchte. Dabei sagte er: „Weg! Weg mit dir!“
Als Nina ihn fragte, was er vertreiben wollte, sagte er:
„Ach! Es sind diese lästigen Teufelchen, die mich immer bedrängen.“
Ich möchte dazu sagen, dass er keineswegs auf Küchenschaben oder dergleichen anspielte. Im Gegenteil, seine Worte spiegelten tatsächlich seine Meinung. Er war einem Wahn verfallen, der ihn bis zum Ende seines Lebens nicht verlassen sollte.
Marina versuchte, ihrer Tochter ein langes Gedicht von Brodsky vorzutragen, blieb jedoch schon in der ersten Zeile stecken. Es war sehr peinlich. Aber wie gesagt, waren Jascha und Marina völlig unempfänglich für dieses Gefühl geworden.
Als ihr Enkel, vom Umtrunk besiegt, auf der Couch einschlief, versuchte Jascha, ihm die Teufel von Leibe zu halten, was den Jungen mehrmals in der Nacht aufweckte.

Es ist eine tragische Geschichte, besonders das Ende. Doch es ist eine Tragik ohne poetischen Pathos. Es ist eine traurige Geschichte, die so prosaisch ist, dass es mir im Grunde widerstrebt sie aufzuschreiben. Sie deprimiert mich, wie nur das Leben deprimieren kann, nie die Literatur.

Nun: alte, lange nicht gelesene Bücher brennen allzu gut.
Es war ein Aufruhr! Die Feuerwehr kam lärmend herbeigefahren, die Leute standen in sicherem Abstand vor dem Haus, das in Flammen stand.
Die Frauen und Kinder weinten hysterisch, die Männer redeten verbittert miteinander.
„Man sollte allen Säufern verbieten zu rauchen.“
„Sofort ins Gefängnis mit solchem Pack!“
„Jetzt schmoren sie wenigstens in Hölle, wo sie hingehören.“

Ich habe Nina damals angerufen. Sie reagierte relativ ruhig. Aber ich glaube, dass das Leben sie einfach abgestumpft hatte. Sie seufzte immerzu und sagte nach einer längeren Pause nur:
„Wenigstens hat das jetzt ein Ende.“
Später weinte sie ein wenig und erzählte von ihrem Jungen, der in der Jugendbesserungsanstalt saß. Das Mädchen nahm Drogen und ging kaum zur Schule.
Ihr Mann hatte sich von ihr scheiden lassen und langweilte seine Freunde mit der ersten und einzigen Erkenntnis seines Lebens:
„Man sollte niemals eine Frau heiraten, ohne vorher ihre Eltern gesehen zu haben.“



© Katarina Cuellar

 

 

 

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