Blatt
Ihr wisst nicht, wie es ist, auf einem Blatt geboren worden zu sein.
Ich schon. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens auf einem Blatt
gelebt, bin wie ein Obdachloser auf seinen Straßen umhergegangen, habe
versucht, mir dort Respekt zu verschaffen, einer von den Harten zu
werden und es zu was zu bringen. Mit der Ausbildung hat es schon mal
nicht geklappt, weil meine Lehrer trockene Bürger waren, die ich
hasste und sie hassten mich, weil ich vom Blatt kam. In der ersten
Klasse bin ich durchgefallen wegen mangelnder Anwesenheit. Und wenn
ich in der Schule war, hab ich nichts kapiert.
Nachdem mein Vater aus dem Gefängnis kam, ließen sich meine Eltern
scheiden. Meine Mutter fragte mich: „Möchten Sie nicht zu Ihrem Vater
ziehen?“ Ich konnte es ihr nicht übel nehmen, denn sie hatte viel
Scheiße gefressen mit mir. Sie wollte nur noch meinen Onkel heiraten
und in Ruhe leben. Also sagte ich: „Ja gut.“
Ich zog nach Fünf Löchern, zu meinem Vater. Eines Tages saß ich über
meinen Hausaufgaben und mein Vater hat mir mit der Faust auf den Kopf
geschlagen, weil ich mal wieder nichts verstanden habe. Ich sagte:
„Bitte schlagen Sie mich nie wieder. Gewalt erzeugt Gegengewalt.“
„Ach wie, Sie wollen mich schlagen, Sie schwule Sau?“
Wir begannen mit Gegenständen um uns zu werfen und ich rannte aus dem
Haus. Spät nachts kam ich wieder, mein Vater wartete bei schwachem
Lampenschein. Er war sehr traurig, umarmte mich und es sagte: „Es
kommt nie wieder vor. Tut mir leid.“
Wenn mich jemand fragte, was mein Vater war, sagte ich „Ökonom“. Was
nicht stimmte, denn mein Vater hatte keinen richtigen Beruf. Ich
wusste nicht, was er war und warum bei uns immer Dollarscheine,
Gewehre und Handgranaten herumlagen. Jedenfalls konnte ich deswegen
nie Freunde einladen.
Als ich zehn war, lernte ich Jakob kennen. Wir spielten zusammen
Fussball, er war sehr gut im Toreschießen und ich war für nichts gut,
aber wir waren Fans vom gleichen Verein. Wir liebten den FC Millionäre
und verpassten kein Spiel von ihnen. Wenn sie in einer anderen Stadt
spielten, fuhren wir eben hin mit unseren grünen Schals. Natürlich bin
ich dadurch wieder durchgefallen. Aber ansonsten war ich sehr
glücklich und wollte der beste Fan der Welt werden. Jakob und ich
lernten Wörterbücher von Beschimpfungen auswendig, um die Nationalen
und die Heiliger Glauben fertig zu machen, wenn sie gegen unsere
Mannschaft antraten. Immer blickte ich zu den Jungs der Hochtribüne
und wollte eines Tages auch dort sitzen, wie die richtigen Fans, vor
denen jeder Angst hatte. Wie das Leben so spielt, lernte ich sie aber
ganz wo anders kennen, in einer Bar, wo ich gerade dabei war, mich mit
Jakob zu betrinken. Seit dem, nehmen sie uns immer zur Hochtribüne mit
und die kleineren Fans müssen mir sofort ihren Sitzplatz überlassen,
wenn ich es eben will. Ab da habe ich den Fussball immer ernster
genommen. Ich lebte nur noch wegen und für die Millionäre. Dazu
gehörte auch, dass ich mit den anderen Millio-Fans durch die Straßen
der Blätter patroullierte, auf der Suche nach Feinden. Wir kreuzten
auf den Parties der Feinde auf und schlugen sie zusammen. Und wenn sie
auf dem Boden lagen und zuckten, schlugen wir weiter, weil sie einfach
lebender Müll waren. Dann gingen wir in eine Bar, um unseren Sieg zu
feiern. Wir verloren nämlich nie einen Kampf. Mit Jakob fühlte ich
mich immer sehr sicher, denn uns verband eine sehr seelische und
mystische Freundschaft. Bis tief in die Nacht gestalteten wir oft acht
Meter lange Tücher mit Sprüchen wie: „Millios, Millios, unsre Hoffnung
ist grün!“
Ein anderer Fan, den ich einfach Affe nannte, wurde drogenabhängig und
ich sagte zu ihm: „Gut, wenn du meine Freundschaft eintauschen willst
gegen die Typen, die dir Drogen geben, dann viel Glück im Leben.“
Drogen waren nie meine Welt.
Ich fuhr mit Jakob im Bus zu einem Spiel und da saß doch tatsächlich
ein Mädchen mit einem Nationalen-Hemd. Ich schrie sie an: „Sie
verdammte Hure!“ und versuchte, ihren blauen Schal wegzunehmen, denn
die Farbe machte mich über alle Maßen wütend.
Manchmal dachte ich, dass etwas mit meinem Leben nicht stimmte, aber
manchmal dachte ich, dass ich noch nie so glücklich war.
Auf einer Schlacht gegen Fans vom FC Heiliger Glaube, sah ich zum
ersten Mal, wie einer tatsächlich mit einer Pistole auf einen Gegner
schoss. Das fand ich übertrieben.
Danach wollte ich nach Hause und sagte zu Jakob, er könne mit zu mir
kommen, mein Vater war nämlich weg und würde so schnell nicht wieder
zurückkehren. Aber Jakob sagte, er könne seine Mutter nicht so
provozieren. Er wollte lieber heim.
Um drei Uhr morgens wurde ich von der Türklingel geweckt. Es war der
Bruder von Jakob, der sagte, die Heiliger Glaube Fans hätten Jakob
erstochen. Wir weinten fassungslos. Er war rein aus Versehen auf dem
Nachhauseweg auf eine Gruppe von achtzig von denen gestoßen. Da haben
die ihn fertig gemacht. Wie die Polizei so ist, haben sie ihn verhört,
statt ihn zum Krankenhaus zu bringen. Als ihn die Ambulanz wegfuhr,
hörte er auf, zu atmen, wurde ganz bleich und ward nie mehr lebend
gesehen.
Auf seiner Beerdigung waren alle Fans von den Millionären da. Ich warf
Jakob einen grünen Schal in den Sarg, er sollte ihn zum Himmel
mitnehmen. Dann band ich noch einen Schal an den Baum über seinem
Grab, damit die Welt auch sähe, dass hier ein Mann für seine
Mannschaft gestorben war. Einer von der Regierung war da und sagte zu
uns: „Leute, wir werden die Sache aufklären. Bitte keine Rache jetzt
von euch.“
„Klar Mann.“ Sagte ich. „Es sollen nicht noch mehr Leute verrecken.“
Aber die Regierung hat natürlich rein nichts gemacht. Wir wussten sehr
bald ganz genau, wer Jakob umgebracht hat.
Eines Nachts war ich sehr deprimiert und habe mich besoffen wie noch
nie. Wir fanden ein paar Leute vom Heiligen Glauben und haben die
Gedärme aus ihnen herausgeschlagen. Ich ging zu Fuß nach Hause und
weinte: „Gott, wenn es Sie gibt, warum bringen Sie mich nicht endlich
um? Ich bin in meiner Ehre verletzt! Bringen Sie mich doch endlich um!
Ich will nicht mehr! Ich will nicht mehr!“
Am nächsten Tag ging´s mir verdammt dreckig und ich beschloss, mit den
Prügeleien aufzuhören. Ich ging zu den anderen Jungs und sagte ihnen,
dass ich nicht mehr konnte. Sie hatten Verständnis und machten eine
große Abschiedsparty für mich.
Ich schaute noch Fussball, aber ich ging weder zu Treffen, noch
patroullierte ich in den Straßen.
Eines Tages saß ich auf dem Platz Fünf Löchern und einige Typen kamen
und sagten: „Wir sind die Front. Wir sind gekommen, um für die Armen
und Benachteiligten zu kämpfen. Die Reichen brauchen nicht so viel
Geld wie sie haben. Die wollen es nicht freiwillig hergeben und
deswegen führen wir einen gerechten Krieg in diesem Land.“
Das war schön gesprochen. Und weil ich an diesem Tag von der Schule
geflogen war, sagte ich: „Ich würde gerne mit Ihnen arbeiten.“
„Kein Problem. Ich organisiere gerade eine Aufgabe, für die ich noch
Leute brauche. Kommen Sie mit.“
Man gab mir Fleisch und Bohnen zu essen, was sehr gut schmeckte. Sie
sagten, sie könnten mir nichts zahlen, aber mir würde es bei ihnen
auch an nichts fehlen.
Der Auftrag bestand darin, mit dem Kameraden Hubert das Auto von einer
Schokoladenfabrik zu entführen und dann Geld zu verlangen und es
abzuholen. Ich wollte auf keinen Fall etwas falsch machen und war sehr
aufgeregt. Hubert und ich warteten im Regen aber das Auto kam einfach
nicht. Stattdessen kam ein Schulbus mit vielen Kinderlein, die gerade
auf einem Ausflug waren. Es blieb uns aber nichts übrig und deswegen
mussten wir diesen Bus nehmen.
Wir kamen mit Gewehren und sagten zu allen: „Sie müssen alle
aussteigen. Wir sind die Front und wir brauchen den Bus.“ Die
Kinderlein weinten und ich hatte Mitleid. Ich sagte: „Es tut mir leid,
es ist ein Auftrag von höherer Gewalt. Sie müssen aussteigen.“
Es regnete immer mehr und die armen Kinderlein mussten zu Fuß nach
Hause und wir waren sehr weit von der Stadt entfernt.
Hubert und ich versteckten den Bus im Wald unter vielen Zweigen und
dann tranken wir einige Schnäpslein. Als wir dann weiter fuhren,
hatten wir leider einen Unfall, weil Hubert so blau war und der Bus
war völlig geschrottet.
Zur Ausbildung kam ich in ein Lager, wo ich mit schweren Rucksäcken
die Berge hinauflaufen musste. Das fand ich etwas zu viel, aber ich
nicht als Schwächling dastehen. Doch am Muttertag begann einer der
Kameraden zu weinen und ich ging zum Oberkameraden und fragte: „Wann
darf ich meine Mutter besuchen?“
Er lächelte und sagte: „Bald. Machen Sie sich keine Sorgen.“
Am nächsten Tag kam ein Kamerad und sagte zu mir: „Aufstehen. Sie
gehen.“
Ich wusste nicht warum. Vielleicht war ich doch zu jung für sie mit
meinen vierzehn Jahren. Man fuhr mich zurück nach Blatt und ich
klopfte an die Tür, hinter welcher Mutter wohnte. Sie öffnete und als
sie mich sah weinte sie und sagte: „Söhnchen, warum sind Sie mir
davongelaufen? Fehlt Ihnen denn irgendetwas hier bei uns?“
„Aber nein, Mama.“
Am nächsten Tag begann ich mit der Feldarbeit. Aber ich hasse nun
einmal die Landwirtschaft, besonders, wenn man nichts für sich selbst
erwirtschaftet. Drei Mal am Tag gab es Kartoffeln und nie ein
Schnäpslein oder Fleisch. Da begann ich wieder von der Organisation zu
träumen und nahm mir vor, dass ich wieder beitreten würde, sobald ich
fünfzehn war.
„Aber wenn du der Front beitrittst, dann bist du für immer einer von
uns, da gibt es kein Umentscheiden“, sagte Hubert, als ich ihn wieder
bat, mich aufzunehmen.
„Ich werde mich nicht umentscheiden. Ich will unbedingt mit euch für
die gerechte Sache kämpfen!“
„Also gut.“
Zuerst wurde ich eingelernt, wie man Entführte versorgt und wie man
Nachrichten weiter gab. Später war ich auch bei einem heiklen Manöver
dabei, es ging darum Gasflaschen aus einer Lagerhalle wo anders hin zu
transportieren. Aber plötzlich rief Hubert kreidebleich: „Die
Regierung! Die Angeber sind da!“
Die Angeber hatten gute Maschinengewehre und Hubert traf es durch den
Hintern, so dass die Kugel oben an der Brust wieder heraus kam. Es
gelang mir, mich zu retten und sogar noch ein paar Angeber
umzubringen. Auf alle Fälle war das mit Hubert eine traurige Sache,
denn er wurde zum Invaliden und konnte nicht weiterkämpfen. Die
Organisation hatte nicht genug Geld, um für seine Behandlung zu zahlen
und so starb er ziemlich elend. Deswegen verlor ich die Lust, für die
Organisation zu arbeiten.
Ich floh also wieder nach Blatt und arbeitete als Zigarettenverkäufer.
Ich hatte viele Freunde, weil ich immer kluge Sachen redete und nie
Scheiße laberte. Wenn die von der Front kommen, um mich zu verhören,
habe ich keine Angst. Ich finde keine Schuld an mir. Die Organisation
ist gerecht, sie töten nicht, um zu töten. Und es würde mich freuen,
wenn sie gegen die Angeber gewinnen könnten. Aber das darf ich nicht
laut sagen. Wenn die aus Blatt das erfahren, werde ich verjagt und
wenn die Organisation davon hört und doch meint, sie hätte noch eine
Rechnung offen mit mir, kann es blöd werden.
© Katarina Cuellar
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